Das Bergsteigen als Massensport entstand in der Sowjetunion quasi aus dem Nichts. Daher mussten Regeln her, um die Sicherheit zu gewährleisten. Die Folge: Noch heute ist das Bergsteigen im postsowjetischen Raum streng und umfassend reglementiert. Das zeigt sich auch in den Ausbildungsprogrammen, der Bestimmung von Leistungsklassen und der Zulassungsprozedur bei Besteigungen. Letzter Teil unserer Serie „Das Phänomen Bergsteigen“.
Laut den Besteigungsregeln besitzt jeder Bergsteiger ein Bergsteigerbuch zum Registrieren seiner bestiegenen Routen und zum Bewerten von Phasen seiner bergsteigerischen Ausbildung. Eine solche Bewertung schließt Noten für spezielle Disziplinen sowie eine persönliche Charakteristik ein. Außerdem bestimmt es, für welchen Routenschwierigkeitsgrad und in welcher Rolle der Bergsteiger in der Gruppe geeignet ist. Alle diese Informationen werden bestimmten Ausbildungsphasen und Leistungsklassen zugeordnet. Dadurch ist es leicht, die Qualifikation des Buchbesitzers zu sehen und eine Entscheidung über seine Zulassung zu bestimmten Routen zu treffen. Bergsteigerbücher beinhalten außerdem Abschnitte für die Dokumentation der Teilnahme an Rettungsaktionen und von Prüfungsergebnissen in Erster Hilfe, von Rettungsarbeiten usw.
Einträge in Bergsteigerbücher dürfen nur Instruktoren oder Trainer vornehmen. Bergsteigerbücher weisen die Erfüllung der Normen der Leistungsklassen nach. Bei erfüllten Normen kann man die offizielle Verleihung einer Leistungsklasse bei einer Sportbehörde beantragen. Da diese Prozedur sehr bürokratisch und lästig ist, stellen diesen Antrag nur diejenigen, die an Wettbewerben um Plätze und Medaillen teilnehmen wollen.
Ausbildungsprogramme
Die bergsteigerische Ausbildung wird durch ein Programm einer Bergsteigerföderation in Levels und Etappen aufgeteilt. Für jede Etappe setzt das Programm Ziele, definiert die Lernthemen und die Zahl der Stunden für die theoretische und praktische Aneignung eines jeden Themas. Diese Vereinheitlichung sorgt dafür, dass die bergsteigerische Ausbildung konsequent und lückenlos ist.
Es gibt vier Levels: „Grundausbildung“ (начальная подготовка), „Sportliche Ausbildung“ (спортивная подготовка), „Sportliche Weiterentwicklung“ (спортивное совершенствование) und „Sportliche Meisterschaft“ (спортивное мастерство). Das Programm regelt in Details die ersten beiden Levels, die noch einmal in Etappen aufgeteilt sind. Nach dem Abschluss der ersten zwei Levels haben Bergsteiger die Leistungsklasse II erreicht und dürfen fortan Besteigungen in selbständigen Gruppen ohne Instruktor oder Trainer durchführen. Im Programm kann man auch sehen, wie viel Zeit ein Bergsteiger für sein Training aufwenden muss. Ganz am Anfang reichen sechs Stunden pro Woche. Um den Titel „Meister des Sports“ zu erreichen, muss man 32 Stunden pro Woche
trainieren.
Leistungsklassen
Das Bergsteigen verwendet ein Leistungsklassensystem, wie es auch für alle anderen Sportarten gilt und von den Sportbehörden gemanagt wird. Es gibt folgende Leistungsklassen: Leistungs-klasse III, Leistungsklasse II, Leistungsklasse I, Kandidat zum Meister des Sports. Weiter folgen nicht Leistungsklassen, sondern Titel: Meister des Sports, Meister des Sports der Weltklasse, Verdienter Meister des Sports. Unterhalb der Leistungsklassen wird ein Bergsteigerabzeichen verliehen, z.B. „Alpinist der Republik Kasachstan“.
Da die Beantragung einer Leistungsklasse bei den Sportbehörden ziemlich viel Zeit erfordert, reicht die bloße Erfüllung der Normen einer Leistungsklasse, um die Qualifikation eines Bergsteigers zu bestätigen und ihn zu Routen zuzulassen.
Die Verwendung der sportlichen Leistungsklassen im Bergsteigen wirkt sich zweifellos positiv auf die Sicherheit aus. Es gibt aber auch ein Problem. Das Leistungsklassensystem basiert auf Besteigungen und lässt die Rolle außer Acht, die ein Bergsteiger in der Gruppe einnimmt. Dabei unterscheiden sich die Qualifikationen für Rollen in einer Gruppe ziemlich stark.
Regeln der Besteigungen
Das „offizielle“ Bergsteigen im postsowjetischen Raum ist streng und umfassend reglementiert. Dafür gibt es historische Gründe. Das Bergsteigen entstand in der Sowjetunion als Massensport in kürzester Zeit fast aus dem Nichts. Die Wissensübergabe von Generation zu Generation, vom Vater zum Sohn im Laufe des Jahrhunderts, wie sie in den Alpen stattfand, war daher unmöglich. Um mehrere Tausend von unerfahrenen Menschen in die Berge zu schicken, ohne diese grandiose Aktion zu einem Massenmord werden zu lassen, waren Regeln, die Sicherheit gewährleisten konnten, unentbehrlich. Heute kann man manchmal Kritik an diesem System hören: es sei rückständig, unflexibel und zu aufwändig, und führe zur Beschränkung der Freiheit sowie von Entwicklungsmöglichkeiten. Für die anderen bleibt dieses System jedoch bis heute eine grandiose Leistung. Die Mehrheit ist allerdings schlicht daran gewöhnt, so wie zum Beispiel an die Gurtpflicht im Straßenverkehr.
Nach den Regeln muss jede Gruppe zu jeder Besteigung zugelassen werden. Solo-Besteigungen werden nicht zugelassen. Für die Zulassung braucht man zwei Personen: den Verantwortlichen für die Zulassung (Выпускающий) und den Verantwortlichen für die Sicherheit (ОБ). Es wird geprüft, ob die Routenliste der Gruppe richtig ausgefüllt ist, die Qualifikation aller Teilnehmer dem Schwierigkeitsgrad der Route entspricht, alle Teilnehmer die Beschreibung der Route kennen und die Gruppe die notwendige Ausrüstung und ein funktionierendes Funkgerät hat. Es werden Kontrollzeiten und Zeiten der Funkverbindungen mit der Gruppe festgesetzt. Werden entweder die Kontrollzeit für die Rückkehr überschritten oder zwei Funktermine verpasst oder ein Notsignal empfangen, muss der Verantwortliche für Sicherheit Such- und Rettungsaktionen organisieren.
Statt eines Epilogs
Die Aufmerksamkeit des breiten Publikums wurde zum letzten Mal im Jahr 1953 auf das Bergsteigen gerichtet, als die Welt die Erstbesteigung des höchsten Gipfels des Planeten feierte. Die Zeiten, in denen man durch das Bergsteigen weltberühmt werden konnte, sind vorbei. Die Berge aber bleiben und die Faszination des Bergsteigens ebenso.