Vertreter aus Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Medien loteten auf der Frankfurter Veranstaltung „Praxistraining Russland“ am 14. und 15. Februar 2012 sowie auf der Mainzer Tagung „Russland 2012“ am 19. und 20. März 2012 die Potentiale und Möglichkeiten für deutsche Firmen auf dem russischen Markt aus und tauschten Erfahrungen aus.

Markteintrittsstrategien, Potenzialermittlung, Vertrieb, Verhandlungsführung, Personalwesen, russisches Steuer- und Handelsrecht – der russische Markt hat seine Besonderheiten. Sorgfältige Vorbereitung und genaue Kenntnis des Landes und seiner Wirtschaft sind nötig.

Im Osten viel Neues

Wer dagegen als Tourist oder Geschäftsmann mit Zwiebeltürmchenromantik, unverdauter Pasternak-Lektüre und Vorstellungen von sibirischen Schneelandschaften nach Russland fährt, kann schnell von der Realität eingeholt werden.

Etwa 6100 deutsche Unternehmen mit Tochterfirmen und Repräsentanzen sind zur Zeit in der Russischen Föderation tätig. Das deutsch-russische Handelsvolumen belief sich 2011 auf 75 Milliarden Euro und schuf ca. 300 000 Arbeitsplätze in deutschen Unternehmen. Die deutschen Direktinvestitionen in Russland betrugen 2011 ca. 8,76 Milliarden Euro und lagen damit vor den chinesischen. Ein wichtiges deutsch-russisches Leuchtturmprojekt – die Nordstream-Pipline – wurde im November 2011 eröffnet, 2012 soll der zweite Strang realisiert werden, dem möglicherweise ein dritter folgen soll. Im Juni 2012 wird das Deutschlandjahr in Russland eröffnet, Ende Oktober 2012 feiert der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft unter Anwesenheit der Bundeskanzlerin Angela Merkel sein 60-jähriges Bestehen und bemüht sich um eine hochrangige russische Delegation; die Stadt Jekaterinburg bewirbt sich um die Expo 2020.

Russland, Mitglied des UN-Sicherheitsrates, der Gruppe der 20 und der G8, ist im Februar 2012 der OECD-Konvention zur Korruptionsbekämpfung beigetreten und möchte das 35. Vollmitglied der OECD werden. Ein wichtiger Schritt war nach 18 Jahren Verhandlungen der WTO-Beitritt Russlands 2011, mit dem sich das Land zu transparenten und international einklagbaren Regeln bekennt. Die Weltbank geht, da die Investitionssicherheit steigt, die Ausfuhrzölle gesenkt und die Einfuhrtarife begrenzt sowie die Märkte für Güter und Dienstleistungen geöffnet werden, von zusätzlichen Wachstumsimpulsen für Russland in Höhe von 11 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) bis zum Jahr 2021 aus. Für den bilateralen deutsch-russischen Handel bedeutet das jährlich etwa zwei Milliarden Euro zusätzlich. Seit Putins Amtsantritt 1999 stieg das russische BIP pro Einwohner von 2 000 auf 9 500 Dollar, es entstand eine wachsende Mittelschicht, die Lebenserwartung erhöhte sich um vier auf über 70 Jahre und Russlands Staatsverschuldung sank von 100 auf 11 Prozent des BIP. Putins Vorschlag – die Schaffung eines einheitlichen Wirtschaftsraumes von Lissabon bis Wladiwostok – wird diskutiert, die Gründung der Eurasischen Union mit Russland, Kasachstan und Weißrussland genau beobachtet und die Liberalisierung der Visumvergabe zwischen der EU und Russland erörtert.

Russland auch sportlich engagiert:

2013 finden die Weltsportspiele der Studenten in Kasan statt, 2014 die Olympischen Winterspiele in Sotschi, ab 2014 die Formel-1-Rennen ebenfalls in Sotschi, 2016 richtet Russland die Eishockey-WM aus und 2018 die Fußball-WM. Auf Wunsch des Kreml beteiligen sich die Oligarchen Wladimir Potanin, Oleg Deripaska und Roman Abramowitsch zusammen mit den Firmen Gasprom und Lukoil an den Planungen.

Der ehemalige russische Präsident Dmitri Medwedew sah in den vier „I“, in Industrie, Infrastruktur, Innovation und Investition die Schwerpunkte seiner Wirtschaftspolitik. Russland möchte in den Sparten Telekommunikation, Energieeffizienz, Atomtechnologie, Raumfahrt und Medizintechnik zur Weltspitze aufschließen. Der Technologiepark Skolkowo bei Moskau, als Schnittstelle zwischen Wirtschaft und Wissenschaft gedacht, soll dafür Ideen und Impulse liefern. Er wird von dem Oligarchen Viktor Wechselberg unterstützt. Schon lange will die russische Politik weg vom Öl und Gas und die Wirtschaft diversifizieren. Das politische Moskau hat nach den Protesten der letzten Wahlen Reformen angekündigt: die Direktwahl der Gouverneure, leichtere Registrierung politischer Parteien sowie ein öffentlich rechtliches unabhängiges Fernsehen und einen freien Medienmarkt.

Aus deutscher Sicht sind die Korruptionsbekämpfung, der Bürokratieabbau, Rechtssicherheit sowie ein Privatisierungsschub und ein „Bündnis für den russischen Mittelstand“ wünschenswert. Der Ost-Ausschuss der deutschen Wirtschaft wird zu diesem Mittelstandsaspekt entsprechende Initiativen und Anregungen ausarbeiten und diese bei der deutsch-russischen Strategischen Arbeitsgruppe und den deutsch-russischen Regierungskonsultationen einbringen. Deutsche Firmenvertreter mahnen mitunter auch mehr Chancengleichheit bei öffentlichen Ausschreibungen in Russland an.

Russland ist ein dynamischer Wachstumsmarkt. Wünschenswert wären deshalb mehr Veranstaltungen wie „Praxisforum Russland“ und „Russland 2012“, da dadurch auch Stereotype und Vorurteile abgebaut werden können. Russland wie auch Kasachstan haben immer noch ein Imageproblem. Dem durchschnittlichen (West-) Deutschen, durch jahrzehntelange Berieselung mit amerikanischen Hollywoodfilmen und englischsprachiger Musik konditioniert, ist sowieso New York und Los Angeles psychologisch viel näher als Moskau oder Minsk. Von Astana ganz zu schweigen. Und: Die Länder werden für die deutsche Wirtschaft immer wichtiger. Von einer stärkeren Einbeziehung der russischen Übersiedler in den bilateralen Handel und die Modernisierungspartnerschaft würden hierbei alle profitieren.

Von Konstantin Dallibor

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