In der Geschichte einer Familie spiegelt sich oft die Geschichte einer Epoche oder eines Volkes wider. Es gab Zeiten, in denen Menschen wegen ihrer Nationalität alles verloren – mitunter sogar ihr Leben. Für andere ging das Leben weiter, verlief aber in gänzlich anderen Bahnen. Besonders für die jüngere Generation ist es wichtig, die Erinnerung an diese Lebensgeschichten zu bewahren.

Alexander Benz, 67, lebt seit 1969 in Kasachstan. Er ist eines von sieben Kindern einer deutschen Familie, die aus verschiedenen Teilen der Russischen Sowjetrepublik in die Region Kemerowo umgesiedelt wurde.

Die Geschichte der Benz-Familie in Russland beginnt am Anfang des 19. Jahrhunderts. Damals, im Winter 1804/05, folgten sie der Einladung Katharinas der Großen. Die russische Zarin mit deutschen Wurzeln hatte um Spezialisten aus dem deutschsprachigen Raum geworben, und die Familie aus Freiburg im Breisgau war als Handwerkerfamilie willkommen. Die Auswanderer bekamen Grundstücke und ließen sich im tatarischen Dorf Kenegez nieder, das jetzt Krasnogorka heißt und zum Bezirk Leninski im Gebiet Kertsch gehört. Das Dorf ist an der schmalsten Stelle der Halbinsel zwischen Asowschem und Schwarzem Meer gelegen. Alexanders Vater Alfred scherzte daher früher: „Wir haben die Wahl, ob wir am Tag in einem der zwei oder gleich in beiden Meeren schwimmen.“

Das freie Leben der Benz-Familie auf der Krim endete zwei Tage, nachdem das August-Dekret die Deportation der Deutschen nach Kasachstan verfügt hatte. Mit wenigen Habseligkeiten wurden sie in umfunktionierten Güterwägen nach Kertsch transportiert, die unter den Menschen besser als „Tepluschka“ bekannt waren – was auf Deutsch so viel bedeutet wie „Wärmeraum“, weil an beiden Enden des Wagons Öfen standen. Von dort ging es für die Sowjetdeutschen auf der Fähre weiter nach Taman, wo sie abermals in „Tepluschkas“ in Richtung Noworossijsk und Astrachan verfrachtet wurden. Lastkähne brachten sie über das Kaspische Meer nach Krasnowodsk (seit 1993 Turkmenbaschi) in der Turkmenischen Sowjetrepublik, von wo aus der Weg mit Güterwägen nach Taschkent führte.

Deportation der Benz-Familie nach Zentralasien

Auf usbekischem Boden sahen sich die Deportierten mit neuen Schwierigkeiten konfrontiert: Alle mussten an einer Station aussteigen und tagelang unter freiem Himmel ohne Essen und Wasser verharren, da die Armee die Wägen an der Front brauchte. „Sie versuchten, dort zu überleben“, beschreibt Alexander Benz das Schicksal seiner Verwandten. „Als es weiter ging, landete mein damals 15-jähriger Vater schließlich im Dorf Semijarka zwischen Semej und Pawlodar. Am 11. November 1941 starb dort seine Mutter – meine Großmutter Alvine Benz – an einer Oberschenkelverletzung, die sie sich auf dem Seeweg zugezogen hatte.“

Alvine und Robert Benz mit Kindern

Irina, die damals 18-jährige Tante von Alexander Benz, schildert ebenfalls grausige Szenen: „Während ihrer Überfahrt auf dem Meer wurden die Sowjetdeutschen bombardiert.“ Als die Bomber ihre tödliche Fracht abwarfen, habe man schwarze Hakenkreuze an ihnen gesehen, so Irina. „Als sie aber nach dem Angriff gewendet hatten, kamen rote Sterne auf der Rückseite zum Vorschein.“ Ein fingierter Angriff also? Fakt ist, dass Irinas Mutter bei dem Angriff so schwer verletzt wurde, dass sie wenige Monate später starb. Irina aber war es streng verboten, mit irgendjemandem darüber zu sprechen. „Das Grab ihrer Mutter konnten wir bisher leider nicht finden, obwohl es eine ungefähre Vorstellung gibt, wo es liegen könnte“, so Alexander.

Die Spur zu Alexanders Vater

Nicht gänzlich geklärt ist der Verbleib von Alexanders Großvater Robert – dem Mann von Alvine, die in Semijarka an ihrer Oberschenkelverletzung gestorben war. „Meine Großmutter Alvine Benz wurde mit ihren drei Kindern Irina, Alfred und Ewald ohne ihren Mann Robert Benz deportiert“, sagt Alexander. Robert war zu dem Zeitpunkt schon mehrere Jahre verschollen gewesen. „Die Geschichte beginnt im Frühling 1936, als mein Großvater zum ersten Mal für mehrere Monate verhaftet wurde. Nachdem er auf freien Fuß kam, sollte er wieder arbeiten gehen. Kurze Zeit später wurde er aber wieder ins Gefängnis gesteckt. Seitdem hat ihn niemand in der Familie je wiedergesehen.“

Robert wurde wohl seine berufliche Tätigkeit zum Verhängnis. Bis zum Ersten Weltkrieg lernte er zwei Jahre in einer Buchhalterschule in Deutschland. Die Ausbildung bekam er dank einer Entscheidung der Deutschen Gemeinde auf der Krim. Anschließend war Robert als Hauptbuchhalter der landwirtschaftlichen Vereinigung tätig. Deshalb wurde er zunächst herabgestuft, dann verhaftet und schließlich gen Norden verbannt.

Unbekanntes Schicksal

Jahrelang, so schildert Alexander, hätten er und die anderen Angehörigen der Benz-Familie geglaubt, dass Robert 1937 durch ein Urteil der gefürchteten Troika erschossen worden sei. Aber das stimmte offenbar nicht, wie sich 1994 herausstellte. In diesem Jahr begab sich Roberts Tochter Irina auf Spurensuche nach ihrem Vater. Sie vollzog den Weg von Kertsch über Rostow am Don bis nach Vorkuta nach. Aus dem Archiv erfuhr sie, dass ihr Vater am 16. Januar 1938 starb.

Ein Mann half ihr bei der Suche nach seiner Grabstätte, deren Standort jedoch nur geschätzt werden kann. „Dieser alte Mann verriet uns, dass unser Großvater unter dem Spitznamen ‚Buchhalter‘ bekannt war und nicht erschossen wurde“, sagt Alexander. Mehr wusste er über die genaue Todesursache nicht zu berichten, auch das Archiv und andere Quellen schweigen darüber. Bekannt ist lediglich, dass er seine letzte Ruhe im Norden Russlands fand.

Mit Kohlerekorden zum Ehrenzeichen der Sowjetunion

Alfred und Frieda Benz in jungen Jahren

Die Geschichte des jungen Alfred, Alexanders Vater, ging dagegen weiter. Nach der Deportation lebte und arbeitete er zunächst in Pawlodar. Er baute Dämme für die Eisenbahn zwischen Siedlung № 6 bis zum Irtysch in Pawlodar. 1942 wurden er und seine Schwester Irina an einen Verteilungspunkt in Nowosibirsk gebracht. Dort teilte man die Leute nach Arbeitsbereichen ein. Der Vater schilderte Alexander, dass „die Handwerker aus der Kolonne zehn Schritte nach vorn machen sollten, die stark gebauten Männer drei“, während die Kranken und Schwachen stehen bleiben sollten. „Die erste Gruppe kam in die Werke, die letzte sollte in der Landwirtschaft tätig sein und die kräftigen Männer ohne Beruf, wie mein Vater, kamen zu den Zechen.“

Alexanders Tante Irina war schon 19 und arbeitete in einem Zementwerk in Prokopjewsk. Sein Vater war erst 16, weshalb er zwei Jahre lang die „leichte“ Arbeit als Antreiber von Grubenpferden unter Tage hatte. Seine Aufgabe war es, zwei Pferde mit Kohlewägen zur Entladestelle zu führen. Mit 18 wurde er selbst Grubenarbeiter in der ältesten Zeche des Kusbas „Koksowaja 1“. Dort arbeitete er 32 Jahre lang unter Tage.

Während dieser Tätigkeit war Vater Alfred oftmals in lebensgefährlichen Situationen. Einmal harrte er nach einem Erdrutsch fünf Tage lang im Schacht aus. Er scheffelte Kohlerekorde, wurde zum Träger des Ruhmesordens für Bergleute in allen drei Stufen. Außerdem bekam er die höchste Auszeichnung für Nicht-Parteimitglieder: das Ehrenzeichen der Sowjetunion. Alfred wurde die Maximalrente für Bergarbeiter in Höhe von 192 Rubel pro Monat gezahlt.

Liebe in der Trudarmee

Alexanders Mutter Frieda Iwanowna Benz lebt in Russland. Am 27. Januar feierte sie ihren 92. Geburtstag. Gebürtig stammt sie aus dem Dorf Nowoskatowka im Gebiet Saratow, doch auch sie wurde während des Krieges in die Sonderzone in Sibirien umgesiedelt. In der dortigen Arbeitsarmee lernten sie und Alfred sich kennen und gründeten später eine Familie. Alexander hat seinen Kindern bereits den Ort gezeigt, wo ihre Großeltern einst zueinander gefunden hatten.

Frieda Benz mit Urenkel

1956 bekam die junge Benz-Familie in der Stadt Prokopjewsk ihre erste Drei-Zimmer-Wohnung. In einem der Zimmer lebte eine andere Familie. 1957 zog die Familie Benz aus der Wohnung in ein Zwei-Familienhaus mit Grundstück und Garten um. Nach der Rehabilitation veränderte sich das Leben der Benz-Familie in eine positive Richtung. Aber das ist eine andere Geschichte.

Helena Garkawa

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