Ihren Fotoapparat hat Terézia Mora immer dabei. Damit fotografiert sie Szenen, die die Schriftstellerin anschließend in ihren Büchern beschreibt. Ende September reiste die Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin durch Zentralasien, machte Bilder und las aus ihren Werken vor. Vorletzter Halt der Lesereise war die Bibliothek des Goethe-Instituts in Almaty.
/Bild: Christine Karmann. ‚Terézia Mora ist in Ungarn geboren, lebt aber seit 20 Jahren in Berlin.’/
Es gibt ein Hörbuch zu Terézia Moras allererstem Roman „Alle Tage“. Darauf ist die dunkle, eigentlich schöne Stimme von Eva Mattes zu hören. Terézia Mora konnte die von ihr niedergeschriebenen Worte aus dem Mund der Schauspielerin nur eine halbe Stunde ertragen. „Ich hatte einfach das Gefühl, die Frau weiß überhaupt nicht, was sie liest“, sagt die 39-Jährige. Seit drei Tagen ist sie in Kasachstan unterwegs, um ihrem Roman die eigene Stimme zu leihen. Doch die ist nach den Lesungen in Astana und Karagandy ganz rauh geworden und kratzt im Hals. Terézia Mora bezwingt sie schließlich mithilfe von heißem Tee, atmet tief durch und schlägt das Buch auf.
Warme Stimme, kalte Sprache
Der Roman „Alle Tage“ beginnt auf einem Spielplatz. An einem Klettergerüst baumelt kopfüber der Protagonist Abel Nema. Seine Füße sind mit Klebeband befestigt, im Gesicht hat er mehrere Verletzungen. Ob er je wieder die Augen öffnen wird, erfahren die knapp 30 Zuhörer an diesem Abend nicht. Die schwarze Kleidung der Vorleserin könnte aber auf einen Trauerfall schließen lassen. Terézia Mora seziert im grellen Neonlicht der Bibliothek das Leben des Gehängten: Abel Nema lebte vor langer Zeit mit seinen Eltern „in einer kleinen Stadt in der Nähe dreier Grenzen“. Der Vater verschwindet, als er zwölf ist. Später ist von Krieg die Rede. Abel verlässt sein Land und geht nach B., wo er die gutherzige Mercedes heiratet. Die Ehe hält nicht lange. Abel, der zehn Sprachen spricht, wird von seinen Mitmenschen mit Gefühlen überhäuft, doch er kann mit ihnen nichts anfangen, geschweige denn Liebe empfinden. Terézia Moras geschriebene Sprache ist kalt und klar. Sie trifft die Zuhörer mit voller Wucht und zwingt sie zum Schweigen. Die vom Tee gewärmte Stimme der Autorin erzeugt jedoch Mitleid mit diesem Abel Nema, den man irgendwie nicht zu fassen bekommt.
Zu etepetete für Ungarn
„Ich habe mir überlegt, wie man sich normalerweise die Situation eines Flüchtlings vorstellt und alles umgedreht“, sagt Terézia Mora. So seien alle Menschen nett zu dem sich fremd fühlenden Abel Nema und möchten ihm helfen, sich zu integrieren. „Doch sie leiden unter einer Person, die einfach unnahbar ist und bei der der Versuch, sie zu knacken, völlig sinnlos ist“, sagt die Autorin. Sie selbst ist in Ungarn geboren und zweisprachig aufgewachsen. Heute lebt sie in Berlin. Neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin arbeitet sie als Übersetzerin aus dem Ungarischen ins Deutsche. Die Geschichte von Abel Nema gibt es auch in einer ungarischen Fassung. Sie kann sich noch an die Diskussionen mit der Übersetzerin erinnern. „Ungarische Flüche sind viel genitaler als in Deutschland. Als ich einmal meinte, dass mir bestimmte Worte zu derb seien, bekam ich zur Antwort, dass in Ungarn niemand so etepetete spreche, wie ich schreibe“, sagt Terézia Mora. Manchmal braucht es nicht viel, um sich ein bisschen wie Abel Nema zu fühlen.