Eine Reise durch Südkasachstan ist nicht nur wegen der kulturellen Sehenswürdigkeiten interessant. Viele Eigenheiten und Gewohnheiten, die das kasachische Volk und dessen Leben ausmachen, lassen sich unterwegs aufspüren.

Im Zug von Almaty Richtung Westen fängt Kasachstan an. Nach Turkistan oder zum Kaspischen Meer reisen viele Bewohner und wenige Touristen des neuntgrößten Landes der Erde. Die Türen schließen, Pfiff, von überall hört man kasachisches Geplapper, Kofferrücken, Kindergeschrei. Kaum ein russisches Wort fällt mehr, Kasachisch ist „angesagt”. Für je 200 Tenge erhält jeder in Folie eingeschweiste Bettwäsche, alle Fahrgäste beziehen ihre Klappliegen mit den weißen Tüchern.

Im Nachbarabteil riecht es schon nach Tee, Heißwasser aus dem zugeigenen Samowar kann sich jeder abzapfen. Viele sind länger als eine Nacht unterwegs. Früchte, gesüßte Kondensmilch, Lipjoschki-Fladenbrot und Konfekt werden auf den kleinen Klapptischen, die jedes Abteil hat, aufgetürmt. Inzwischen schaukelt die Diesellok durch die Steppenlandschaft. Vorbei geht die Fahrt an Lehmhäusern und Eseln, Schafherden und Reitern. Mit einigem Glück lässt sich ein Fenster öffnen, um bei Frischluft die Landschaft zu genießen, und vielleicht einen Wolf zuerblicken. Doch neben der abwechslungsreichen Steppe rückt der Abfall in das Blickfeld, der sich entlang der kompletten Schienenstrecke häuft. Als der Zugbegleiter den Mülleimer kurzerhand aus dem Fenster kippt, ist klar, wie es dazu kommt. Auch Eisenbahnfriedhöfe ziehen vorbei, die Erde ringsherum ist schwarz von ausgelaufenem Öl.

Sternenhimmel und Glockentöne

Zwischendurch gibt es immer wieder Stopps, meist an kleinen Siedlungen, Frauen verkaufen Milch, das Jogurthgetränk Ayran, Sahne und Käse – natürlich alles hausgemacht. Auf alten Fahrgestellen, denen man ansieht, dass sie allesamt früher Kinderwägen waren, werden die Waren feilgeboten. Findige Frauen haben kleine Hocker dabei, um an die hohen Zugfenster heranzukommen. Immer wieder schreit es „Moroschenoje“, Eis wird angeboten. Im stickigen Zug ist das neben der Klimaanlage eine willkommene  Erfrischung. Mit einem heftigen Ruck setzt sich die Bahn in Bewegung, es geht weiter. Am Abend sieht man von weitem Blitze, irgendwo entfernt ist ein Gewitter, die Sterne sind klar zu erkennen, fast greifbar. Das rhythmische „Tatack, tatack“ des Zuges schaukelt die Passagiere in den Schlaf, alle Coupetüren sind geschlossen, das Gedränge vor den sonst vielbesuchten Toiletten ist für die nächsten Stunden vorüber. Nur ein metallisches Klopfen stört die Ruhe nach dem Stopp, die Räder werden nach Rissen untersucht. Nicht mit Ultraschall, sondern mit Gehör wird hier noch die Sicherheit geprüft. Ertönt ein glockenheller Ton, ist alles in Ordnung.

Am nächsten Morgen und viele Glockentöne später werden nach einer Katzenwäsche die Betten abgezogen, die Matratzenauflagen eingerollt. Der Zug spuckt in Schimkent die Passagiere aus. In der größten südlichen Stadt Kasachstans geht es ruhiger zu als in der Almatiner Großstadt. Nur die Taxifahrer scheinen gleich hektisch. Die Reisenden, besonders Rucksacktouristen, werden förmlich mit Fahrangeboten überfallen: „Wohin, wohin? Zentrum, Zentrum?” Trotz vieler ablehender „njet, njet”-Rufe lassen sie sich nur schwer abschütteln.

Der Tourist ist die Attraktion

Der Schimkenter Basar schafft es, seine Besucher für Stunden zu verschlucken – die Preise sind sensationell günstig, die Auswahl riesig. Nur die Schweinefleisch-Abteilung ist klein und gesondert untergebracht, da die meisten Kasachen Moslems sind. In kleinen Schaschlikbuden wird für wenige Tenge ein deftiges Mahl serviert. Die Spieße erhalten ihren typischen Geschmack durch das langsam abglühende Saksaul-Holz und durch tüchtige Spritzer Essig, die nicht fehlen dürfen. Die meisten trinken Bier dazu, scheinbar nehmen sie die Regel des Islam, keinen Alkohol zu trinken, nicht zu ernst.

Ausländer werden gern beguckt, ständig fragen Verkäufer, Toilettenfrauen, vorbeilaufende Kinder: „Woher kommt ihr denn?” Wer mehr wissen will, erkundigt sich nach Wohnort und danach, wie viel es denn koste, nach Kasachstan zu kommen, ob es einem hier gefalle und ob es in Deutschland nicht schöner, vor allem sauberer sei. „Gibt es bei euch auch Muslime?”, diese Frage taucht ebenfalls oft auf. Viele der Neugierigen haben irgendeine Verbindung zu Deutschland, entweder Freunde oder eine alte deutsche Oma oder haben selbst Armeedienst in der ehemaligen DDR geleistet.

Ausgefragt, satt und um einige Souvenirs reicher fängt das Hotelbett den müden Körper auf, nur die zahlreichen Mücken stören den Schlaf. Am nächsten Morgen fließt das Wasser aus dem Hahn nur spärlich. Wie so oft ist kein Druck auf den Leitungen, der Wasserkasten der Toilette füllt sich in Zeitlupe, die Katzenwäsche muss abermals ausreichen. Egal, denn die Hitze im Juli ist allgegenwärtig, das Frischegefühl nach dem Duschen hält keine fünf Minuten vor.

Die nächste Marschrutka bringt ihre Fahrgäste zum „Aftowoksal”, dem Busbahnhof, den es in jeder größeren Stadt in Kasachstan gibt. Wer abseits der Linienstrecken befördert werden will, kann sich dort ein eigenes Taxi anmieten. Der verlangte Preis ist anfangs immer hoch angesetzt, Sturheit beim Verhandeln zahlt sich aus: Nachdem der Rucksack in die normale Streckenmarschrutka gepackt ist, fällt der Fahrpreis doch noch. Das Gepäck wird wieder umgeladen, prompt hat man einen „eigenen” Kleinbus mit Fahrer angemietet.

Die Steppe – ein Paradies für Archäologen

In der alten Seidenstraßenstadt Otrar hält der Wagen, kein Hinweisschild markiert die Ausgrabungsstelle abseits der Asphaltpiste. Schon zu viele Neugierige haben den Lehmbauresten zugesetzt, viele laufen über die freigelegten Teile, nehmen alte Keramikscherben mit, buddeln eigenständig drauflos. Doch ein Spaziergang um das alte Stadtterritorium herum, auch ohne Schaden anzurichten, ist möglich. Den Besucher umweht dabei neben dem leichten Steppenwind der Hauch der Geschichte. Weg von Otrar, der Geburtsstadt des gelehrten Al-Farabi, führt die Straße nach Turkistan. Wer als Ausländer dort das Mausoleum von Hodja-Achmed-Jassawi umschreitet, sieht zahlreiche Betende, die in der Hocke verweilen, bis der Vorbeter seinen Singsang beendet hat. Er verdient sich damit ein paar Tenge. Wer in das Innere des Baus will, muss als deutscher Tourist den fünffachen Preis zahlen, bekommt also auch fünf Eintrittskarten.

Nach der Besichtigung ist eine Stärkung nötig. Für 70 Tenge erhält man im Basar einen „Hamburger”. Das ist ein kleiner Döner mit Fleisch, ohne Gemüse. Und dafür muss man lange anstehen, denn der Döner-Hamburger scheint im Moment das begehrteste Essen auf dem ganzen Basar. In Scharen laufen ältere Kasachinnen vorbei, alle tragen eine Art weites Nachthemd aus dem immergleichen Stoff: Weiße Baumwolle, darauf sind in blau und rot kleine Muster aufgedruckt. Alle feilgebotene Bettwäsche und die Arbeitskleidung der Frauen in den Garküchen ist daraus hergestellt.

Auch im Zug gelten die Haushaltsregeln

Essen aus noch warmen Kochtöpfen bieten auch die Frauen am Bahnhof in Turkistan an. Mit Fleisch gefüllte Teigtaschen, „Manti”, oder Kartoffeln mit Gemüse gibt es billig zu erstehen. In Bademänteln und Hausschuhen laufen die Reisenden umher, kaufen noch schnell eine Portion. Wenige Minuten später rollt der Zug durch die flache Landschaft, der zum Trocknen allerorten aufgestellte Kuhdung fällt kaum noch auf, das Räderabklopfen stört den Schlaf nicht mehr. Es mischt sich wieder gehäuft Russisch unter die Sprache, keiner fragt mehr: „Woher kommt ihr denn?” Stöckelschuhe lösen Hausschuhe ab, Frauen sind mit Miniröcken statt Bademänteln gekleidet. Das ländliche Kasachstan, das so viel anders ist als seine moderne Finanzmetropole Almaty, rückt auf Schienen so schnell in die Ferne, wie es gekommen ist.

Von Eva Hotz

28/07/06

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