Mit seinem neuen Werk liefert Kai Ehlers als Kenner der Region „Inneres Asien“ eine kurzweilige, kenntnisreiche und nicht ganz konventionelle Sicht der Dinge in Russland, China, Zentralasien und gerade der Mongolei.
Viel wird gegenwärtig über die Wachstumsmärkte Russlands, Chinas und Zentralasiens geschrieben. Der Publizist Kai Ehlers widmet sich in seinem neuen Buch der Region aus etwas anderer Perspektive, wie der Buchtitel „Asiens Sprung in die Gegenwart: Russland-China-Mongolei“ zeigt. Der Experte für den Kulturraum „Inneres Asien“, diese Bezeichnung gebraucht Ehlers in Anlehnung an eine Definition russischer, chinesischer, mongolischer und zentralasiatischer Wissenschaftler, interpretiert die aktuellen nationalen und grenzüberschreitenden Prozesse als neues Entwicklungs- und Lebensmodell für die Menschheit.
In etwa 20 Einzelkapiteln und knapp über 100 Seiten liefert Ehlers ein instruktives Gesamtbild der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Änderungen, die das faktische Ende von Sowjetsozialismus und Kommunismus in Russland, China, der Mongolei und Zentralasien nach sich zogen. Der Autor skizziert geopolitische und große Machtspiele um Energie und neue Religiösität sowie kleine Machtspiele um eine noch zu bauende Brücke über den Amur zwischen der russischen Stadt Blagoweschtschensk und dem chinesischen Che Che. Er beschäftigt sich mit der vermeintlichen „gelben Gefahr“ durch chinesische Migranten, dem Leben und der Relevanz der chinesischen oder zentralasiatischen Gastarbeiter und kleinen Grenzhändler in der Region, den chinesischen Billigwarenhändlern, die in den harten Perestroikajahren das Überleben sicherten und noch heute die Chinesenmärkte Russlands und Zentralasiens mit Nachschub versorgen. Ehlers kurze Kapitel machen ferner im Altai, in Ulan Ude und Wladiwostok oder in der Mongolei Station und widmen sich auch den nomadischen Traditionen des Tengrismus.
Schillernde und kontroverse Thesen
Neben der kenntnisreichen Bestandsaufnahme des menschlichen Zusammenlebens, der aktuellen Umwälzungsprozesse und der Migrationsdynamik im eurasischen Kulturraum „Inneres Asien“ wartet das Ehlers-Buch mit schillernden und kontroversen Thesen auf. Russland und hier vor allem seinen Fernen Osten sieht Ehlers als Entwicklungsmodell neuen Typs an, als taufrische Symbiose von Modernisierung und Tradition, von Industrie und Selbstversorgung – wenn auch armutsbedingter und meist unfreiwilliger Natur. Im Zusammenspiel zwischen Moderne und Selbstversorgungsfähigkeit sieht Ehlers die Stärke und Widerstandsfähigkeit der ökonomischen Entwicklung in Russland (besser in seinem Fernen Osten), in China (abseits von Schanghai), Zentralasien oder der Mongolei. In der Pflege eben dieses Entwicklungsmodells schreibt er dem kleinen Volk der Mongolei mit seinen bewahrten nomadischen Traditionen eine bedeutende Rolle zu. Die oftmals kaum wahrgenommene, neutrale Mongolei und die dortigen Lebensweisen erscheinen in Ehlers Gedankenwelt als Heilsbringer für die in der neoliberalen Falle gefangenen westlichen kapitalistisch-konsumeristischen Gesellschaften.
Kai Ehlers, „Asiens Sprung in die Gegenwart, Russland-China-Mongolei, Die Entwicklung eines Kulturraumes „Inneres Asien“, Pforte Verlag, Dornach (Schweiz), 2006, 120 Seiten, 9 Euro.
Von Gunter Deuber
06/10/06