Die Gesellschaftliche Stiftung der Deutschen Kasachstans „Wiedergeburt“ will die Geschichte der Kasachstandeutschen digitalisieren. Doch dabei überspringt sie einige Schritte.
Die Geschichte der Deutschen in der ehemaligen Sowjetunion ist eine ausgesprochen leidvolle. Diese zu dokumentieren, hat sich die Gesellschaftliche Stiftung der Deutschen Kasachstans „Wiedergeburt“ vorgenommen. Dazu fand Anfang der Woche eine zweitägige Konferenz in Kasachstans Hauptstadt Nur-Sultan statt. Unter dem Titel „Deutsche Kasachstans: Das historische Andenken an eine Ethnie und die Digitalisierung von Informationsmaterial“ diskutierten Experten darüber, wie man die Vergangenheit der deutschen Minderheit einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen könnte.
Dabei wurde bei der Organisation der Konferenz einmal mehr viel erwartet, sie jedoch nicht genug durchdacht. Ziel war es, zu erörtern, wie die Digitalisierung von Informationsmaterial erfolgen kann. Dabei stellt sich gleich zu Beginn die Frage, ob eine „wissenschaftlich-praktische Konferenz“ der richtige Rahmen ist, um Konzepte zu erarbeiten. Zumal der wissenschaftliche Teil eher zu wünschen übriglies. Eingeladen waren viele renommierte Historiker, allerdings kaum Experten, die wissen, wie ein Museum gestaltet oder ein Archiv geführt wird, und was Digitalisierung tatsächlich leisten kann. Der Grundgedanke, historische Dokumente zu digitalisieren, ist dabei gar nicht mal falsch. Wir leben schließlich in einer Zeit, wo fast jeder mit einem Smartphone das Wissen der Welt in der Hosentasche mich sich herumträgt. Doch wie der deutsche Botschafter Tilo Klinner in seiner Begrüßungsrede sagte, bedeutet „Digitalisierung nicht nur das Einscannen von Dokumenten und das Erstellen von Datenbanken, sondern auch das Erdenken von Konzepten“.
Eine Idee ist dabei, ein virtuelles Museum zu erstellen. Das Problem: Es gibt in der gesamten ehemaligen Sowjetunion kein einziges Museum, das die Geschichte der Russlanddeutschen im Großen und Ganzen erzählt. Es existieren zwar kleinere Dorfmuseen, wie zum Beispiel im sibirischen Alexandrowka, und Ausstellungen, aber diese sind meist nur regional veranlagt. Auch ein zentrales Archiv, wo alle Dokumente zu den Deutschen aus Russland, gesammelt werden, ist bisher nicht vorhanden. Es gibt also kein Vorbild für ein virtuelles Museum, das einen im Internet durch die Geschichte der Deutschen aus Russland führen könnte.
Doch da fängt es an: Wenn man „Digitalisierung als Grundlage eines einheitlichen Informationsraums der deutschen Diaspora“ begreift, wie der Historiker Viktor Kirillow, ist es so, als wolle man das Pferd von hinten aufzäumen. Einer der aus Deutschland angereisten Geschichtswissenschaftler fasst es am zweiten Tag in der Kaffeepause gut zusammen: Statt über die Digitalisierung zu sprechen, müsste man sich erst einmal einen Überblick über die bereits vorhandenen Dokumente verschaffen und diese zusammentragen. Immerhin präsentiert Kirillow eine Reihe von Informationsressourcen in Russland wie zum Beispiel RusDeutsch, NashiGermany, NashiCanada oder Ru-geld.de.
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Viktor Krieger ist einer der renommiertesten russlanddeutschen Historiker. 1959 im Gebiet Dschambul geboren, siedelte er 1991 nach Deutschland über und unterrichtet unter anderem an der Universität Heidelberg. Über Jahre hinweg hat er durch Zeitzeugengespräche und Quellenarbeit Dokumente zusammengetragen, die die Protesthaltung der Deutschen gegenüber der Sowjetmacht belegen. Die Dokumentation wurde kürzlich auf der Webseite der Bundeszentrale für politische Bildung veröffentlicht, die ein umfangreiches Dossier zu den Russlanddeutschen erstellt hat. Er wundert sich, warum Forschungsergebnisse und Ressourcen aus Deutschland keine Beachtung in Kasachstan finden.
Ab und an verloren sich die Konferenzteilnehmer in anderen Fragen, wie zum Beispiel die Beherrschung der deutschen Sprache unter den Kasachstandeutschen oder warum Kasachstan keine Rente an Spätaussiedler in Deutschland zahle. Der zweite Tag der Konferenz gab immerhin Aufschluss über die Möglichkeiten der Digitalisierung im Museums- und Archivbereich. Tatjana Plochotnjuk präsentierte einen Überblick über die Arbeit der „American Historical Society of Germans from Russia“. Die Gesellschaft existiert seit 1968 und dokumentiert die Geschichte der Deutschen, die erst auf Einladung Katharinas der Großen nach Russland kamen, aber ab 1872 in die USA zu emigrieren begannen. Die Gesellschaft hat schon 1993 mit der Digitalisierung ihrer Quellen angefangen. Heute gibt es in Lincoln, Nebraska, ein Museum, eine Bibliothek und ein umfassendes Archiv über die Geschichte der Deutschen aus Russland in Amerika. Auch online (ahsgr.org) sind viele Dokumente einsehbar.
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Der wohl zukunftsweisendste Beitrag kam von einem jungen Forscher aus Russland. Alexander Djuldenko zeigte am Beispiel des Anne-Frank-Hauses in Amsterdam auf, was Chatbots für Museen leisten können. Ein Bot ist ein textbasiertes Dialogsystem, das das Chatten mit einem technischen System möglich macht, in dem es auf gestellte Fragen automatische Antworten generiert. Auch die Idee einer App, mit der Kinder und Jugendliche während eines Museumsbesuchs Punkte sammeln und sich so durch aufmerksame Betrachtung eine Belohnung erspielen können, ist eine interessante Neuerung, um jungen Menschen wieder Interesse an Museen zu vermitteln.
Djuldenko ging auch auf das Thema Suchmaschinenoptimierung ein. Denn: Wer sich schon die Mühe macht, Online-Ressourcen zusammenzustellen, sollte auch wollen, dass diese gefunden werden. Interessant ist dabei schon die Bezeichnung. Wonach suchen Interessierte im Internet? Nach Russlanddeutschen, Deutschen aus Russland, Kasachstandeutschen oder gar Sowjetdeutschen? Eine wichtige Frage, die bei den Anwesenden aber nur auf wenig Anklang stieß.
47 Teilnehmer aus vier Ländern – Kasachstan, Deutschland, Russland und Ukraine – waren für die Konferenz nach Nur-Sultan gereist, unter ihnen 14 habilitierte Professoren und 12 promovierte Experten. Die Themen reichten von der Geschichte der Kasachstandeutschen über die Entwicklung eines Online-Archivs und eines virtuellen Museums bis hin zur Bildung einer historischen Gemeinschaft zu den Problemen der Deutschen Kasachstans. Am Ende wurde entschieden, Arbeitsgruppen zu bilden, die die besprochenen Themen anhand der Beschlüsse weiterverfolgen sollen. Die nächste Konferenz zur Geschichte der Kasachstandeutschen ist für 2022 geplant.