Die bekannte Organisation hilft Kindern aus schwierigen Verhältnissen, sich zu Persönlichkeiten zu entwickeln und ein selbstbestimmtes Leben zu führen – auch in Kasachstan mit Erfolg. Dennoch gibt es noch einige Hürden, die es in Zusammenarbeit mit der Regierung zu überwinden gilt.

Kasachstan hat in den letzten Jahren eine beachtliche Entwicklung durchlebt. Die Wirtschaft wächst trotz Rückschlägen während der Corona-Krise stetig, für Deutschland und die EU ist das zentralasiatische Land zu einem wichtigen Handelspartner geworden. Dennoch lebten laut dem aktuellen Lagebericht von Unicef Ende 2023 noch rund 1,1 Millionen Menschen unterhalb der national festgelegten Armutsgrenze – ganze 40 Prozent davon sind Kinder.

Mit Maßnahmen wie finanzieller Unterstützung für Menschen in Not versucht der Staat, die Situation der Betroffenen und der Gesamtbevölkerung zu verbessern. Dennoch bedarf es der Hilfe von externen Partnern. Eine besonders wichtige Rolle spielen dabei ausländische Hilfsorganisationen wie die SOS-Kinderdörfer.

In Kasachstan betreibt der in Österreich ansässige Verein drei Einrichtungen: Neben Kinderdörfern in der Hauptstadt Astana und der Großstadt Almaty ist er auch in der Industriestadt Temirtau präsent. Derzeit befinden sich rund 260 Kinder in der Obhut der SOS-Kinderdörfer – einige davon sind Waisenkinder, andere kommen aus Familien, die sich in Krisensituationen befinden.

Individuelle Förderung ermöglicht individuelle Entwicklung

Lena war einst eines dieser Kinder. Mit nur drei Jahren kam sie in die Obhut des SOS-Kinderdorfes in Temirtau, wo sie mit sieben anderen Kindern in einer Pflegefamilie lebte. Insgesamt scheint sie die Zeit im Kinderdorf nur positiv in Erinnerung zu haben. Dank zahlreicher Angebote für Freizeitaktivitäten, Unterstützung in der Schule und einer engen Gemeinschaft mit den anderen Familien im Dorf sei sie die Person geworden, die sie heute ist. „Das Kinderdorf spielt auch heute noch eine große Rolle in meinem Leben – vor allem dank dem, was es mir in den Jahren, in denen ich dort war, gegeben hat. Das Leben dort war sehr ereignisreich, interessant und voller schöner Erinnerungen.“ Sie habe nie das Gefühl gehabt, dass es ihr im Vergleich zu Gleichaltrigen an etwas fehlt, erzählt sie.

„Wir lernten in Schulen mit normalen Kindern. Aber dank des Kinderdorfes konnten wir auch an verschiedenen zusätzlichen Kursen teilnehmen, zum Beispiel Tanzen, Singen, Musikinstrumente spielen, verschiedene Kreativclubs, Stricken, Nähen und so weiter. Uns wurden auch zusätzlicher Unterricht in Sprachschulen oder Kurse in Mathematik bezahlt. Alles hing von der Wahl und den Interessen des Kindes ab.”

Nachhaltigere Finanzierung entscheidend

Dass Lena all diese Angebote genießen konnte, geht auf das Grundprinzip der Kinderdörfer zurück: Hilfe zur Selbsthilfe. Maria Tschernowa, Programmdirektorin der SOS-Kinderdörfer in Kasachstan, erklärt, dass bei den in Pflegefamilien lebenden Kindern vor allem auf die Entwicklung von Selbstständigkeit gesetzt wird. „Die Kinder werden bei der Integration in die Gesellschaft unterstützt. In Almaty haben wir beispielsweise auch Wohnungen in der Stadt, um die Kleinen auf das Leben nach der Zeit in unserer Obhut vorzubereiten und Stigmatisierung zu vermeiden“, so Tschernowa.

Neben den Kindern werden auch die Pflegefamilien umfassend unterstützt. „Viele unterschätzen die Schwierigkeiten, ein traumatisiertes Kind aufzunehmen. Wir bieten deshalb Schulungen an, die dabei helfen, die Realität besser zu verstehen und sich auf das kommende vorzubereiten.“

Zahlreiche Kinder wie Lena haben durch die Hilfe der Organisation eine stabile Kindheit erhalten. Doch es gibt einige Probleme, die auch Tschernowa Sorgen bereiten. So stehe die Organisation beispielsweise vor finanziellen Herausforderungen, insbesondere bei Dienstleistungen im Zusammenhang mit psychischer Gesundheit. Eine nachhaltigere Finanzierung sei hier entscheidend, um kontinuierliche und effektive Unterstützung für die bedürftigen Familien und Kinder zu gewährleisten.

Auch habe die Organisation auf Grund ihrer Größe und der intensiven Art der erforderlichen Unterstützung nicht die Kapazitäten, eine große Anzahl von Familien und Kindern zu unterstützen. Jeder Sozialarbeiter könne nur eine begrenzte Anzahl von Fällen betreuen. Es müsse langfristige und umfassendere Maßnahmen geben, um die Not von Kindern und Familien systematisch zu bekämpfen, so Tschernowa.

Präventionsarbeit senkt Kosten

Erste Schritte seitens der kasachischen Regierung wurden bereits eingeleitet. So eröffneten erste staatliche Familienzentren, die ähnlich wie die SOS-Kinderdörfer beratend und unterstützend an der Seite von Notleidenden stehen. Doch auch hier zeigen sich erste Probleme in Form von Geldmangel. Zudem setzen die Regierungseinrichtungen zu spät an, findet Tschernowa.

„Der Staat fängt erst dann an, mit der Familie zusammenzuarbeiten, wenn er das Kind bereits in die Obhut einer Institution gegeben hat – nicht vorher. Wir versuchen zu erklären, dass hier Präventionsarbeit wichtig ist. Es muss schon deutlich früher eingegriffen werden, um zu vermeiden, dass das Kind überhaupt erst aus der Familie herausgenommen werden muss.“ Wäre die Präventionsarbeit ausgeprägter, würden auch die Kosten sinken, meint Tschernowa. Nach ihren Angaben kosten die unterstützenden Angebote den Staat pro Familie etwa 600.000 Tenge. Wird ein Kind in einer Einrichtung untergebracht, erhöhen sich die Ausgaben auf rund 4 Millionen Tenge.

Der Weg zurück in ein normales und erfülltes Leben

Maria Tschernowa und ihre Kollegen haben diese Rechnung bereits den verschiedensten Regierungsvertretern präsentiert. Mit ihrer Lobbyarbeit erhofft sie sich, dass Hilfsorganisationen und der Staat künftig besser zusammenarbeiten. Die aktuellen Bemühungen seitens der kasachischen Regierung bewegen sich ihrer Meinung nach zwar in die richtige Richtung – es fehle aber noch an einem systematischen Ansatz und ausreichender Finanzierung. Alles in allem ist Tschernowa jedoch hoffnungsvoll, was die Zukunft angeht. In ihrer Zeit bei den SOS-Kinderdörfern hat sie bereits viele Fälle erlebt, in denen Kinder und Familien den Weg zurück in ein normales und vor allem erfülltes Leben gefunden haben.

So auch Lena. Sie ist heute 23 Jahre alt und hat sich ihr eigenes Leben aufgebaut. Mittlerweile wohnt sie in Almaty, hat die Universität abgeschlossen und arbeitet als Logistikerin. Kontakt zu ihrer Pflegemutter hat sie regelmäßig. Sie habe ihr viel zu verdanken, so Lena. „Ich stehe meiner Familie sehr nahe. Meine Mutter zieht bereits die dritte Generation von Kindern auf, die ich alle als meine jüngeren Brüder und Schwestern betrachte.“ Eine Zukunft in ihrer Heimat Temirtau kann sie sich jedoch nicht vorstellen. Lena möchte die Welt sehen, im Ausland leben, eines Tages vielleicht sogar eine eigene Firma gründen. „Meine Ambitionen und Wünsche gehen über die Grenzen dieser kleinen Stadt hinaus.“

Das Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe hat in diesem Fall also funktioniert. Nun ist es an der kasachischen Regierung und den SOS-Kinderdörfern, sich gegenseitig zu helfen. Damit auch in Zukunft Kinder den Raum haben, sich zu eigenständigen Personen mit grenzenlosen Ambitionen und Wünschen zu entwickeln – zu Personen wie Lena.

Sonja Issel

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