Die Integration der Südprovinzen in die postsowjetische kirgisische Staatsbildung ist die größte Herausforderung der neuen Führung in Kirgisistan, meint der Zentralasienexperte Uwe Halbach. Ein Gespräch über Risiken, Chancen und Hintergründe des Machtwechsels
DAZ: Herr Halbach, ist der Umsturz in Kirgisistan eine Chance oder eine Bedrohung für die Region?
Uwe Halbach: Das hängt von der Entwicklung der nächsten Tage und Wochen ab. Wenn die Interimsmacht unter Führung Kurmanbek Bakijews die Situation im Land einigermaßen unter Kontrolle bekommt und ordentliche Präsidentschaftswahlen im Juni organisieren kann, wenn sich die oppositionellen Kräfte auf diese vorrangigen Ziele konzentrieren und nicht in Konkurrenz zueinander treten und wenn der Aufmarsch der Anhänger des alten Regimes eine Episode bleibt, dann hat Kirgisistan die Chance, ein Beispiel für einen noch halbwegs friedlichen Regimewechsel zu setzen. Das Ziel einer an Tiflis und Kiew angelehnten „Tulpenrevolution“, bei der nicht eine einzige Fensterscheibe zu Bruch geht und sich die demonstrierenden Massen absolut friedlich und diszipliniert verhalten, ist in den letzten Tagen allerdings deutlich verfehlt worden. Eine Zuspitzung der Spannungen im Süden des Landes würde in allen Nachbarstaaten höchste Besorgnis auslösen. Alles, was in der kritischsten Subregion Zentralasiens, im Ferganatal, geschieht – und dort liegen die drei Südprovinzen Kirgistans -, betrifft automatisch die Sicherheit von drei Staaten: neben Kirgistan Usbekistan und Kasachstan. Doch neben diesen Bedrohungspotentialen liegen auch Chancen für die Region in der Entwicklung in Kirgistan. Amtierende Machteliten im GUS-Raum werden von Wahl zu Wahl immer deutlicher zu einer Einsicht gezwungen: Wahlfälschung wird gefährlich. Das ist vor allem für die zentralasiatischen Präsidialautokratien eine höchst irritierende Lektion.
DAZ: Wie konnte der Umsturz derart schnell passieren, hat er sich schon länger angekündigt?
Halbach: Das Akajew-Regime der letzten Jahre erinnert an das Schewardnadse-Regime in seiner Endphase. Es war weniger ein despotisches als ein lethargisches Regime, das den Kontakt zu den Regierten verloren hat, das einen Realitätsverlust erlitten und den Durchblick verloren hat. Vor allem den Durchblick darüber, wie weit in breiten Teilen der Bevölkerung die Frustration über die Familienherrschaft Akajew, die sich immer weiter in die Wirtschaft erstreckt hatte, gewachsen war. Das Entwicklungsmuster nach den Wahlen, vor allem die anfängliche Konzentration von oppositionellem Aktivismus auf die Südprovinzen, war voraussehbar. 2002 hatte es in diesem Landesteil schon einmal einen heftigen Zusammenstoß zwischen den Sicherheitskräften des Regimes und Demonstranten (mit Todesopfern) gegeben. Damals war übrigens Bakijew Ministerpräsident unter Akajew und für den Einsatz der Sicherheitskräfte verantwortlich. Die Nord-Süd-Teilung Kirgisistans ist das strukturelle Muster, in das sich das gesamte politische Geschehen einordnet. Seit der Unabhängigkeit wird die mangelnde Integration der Südprovinzen in die postsowjetische kirgisische Staatsbildung beklagt. Für eine neue Führung in Bischkek wird die Integration des Südens die größte Herausforderung darstellen.
DAZ: In einem Diskussionspapier vom September 2003 fordern Sie dringend ein „Gesamtkonzept für die Stabilisierung Zentralasiens“. Kann von einem solchem inzwischen die Rede sein?
Halbach: Nein, es gibt – trotz ständiger Beschwörung des Kampfs gegen Terrorismus innerhalb eurasischer Kooperationsformate im Rahmen der GUS und in Zusammenarbeit mit China – keine seriöse sicherheitspolitische Kooperation zwischen zentralasiatischen Staaten. Und das angesichts sehr ernst zu nehmender gemeinsamer Bedrohungen wie der durch den Drogenhandel aus Afghanistan und anderen Faktoren. Die Beziehungen zwischen den Staaten, etwa zwischen Usbekistan und Kasachstan, sind eher von Konkurrenz als von Kooperation bestimmt. Da werden Grenzabschnitte einseitig geschlossen oder gar vermint, da tauschen Sicherheitsdienste auf zwischenstaatlicher Ebene kaum Informationen untereinander aus, da beäugen sich Präsidenten gegenseitig mit Argwohn. Präsidiale Majestäten, die im innenpolitischen Raum Machtteilung nicht zulassen, tun sich natürlich auch im außenpolitischen Raum schwer damit, ihre eigene Person einem gemeinsamen Anliegen unterzuordnen.
DAZ: An der gleichen Stelle beschreiben Sie den Mechanismus, dass die alten Eliten in Zentralasien im Zuge der Machtkonzentration der Präsidenten aus dem „nationalen Konsens“ ausscherten und sich der Opposition zuwandten. Tritt in Kirgistan mit Kulow und Bakijew nun wieder eine alte Elite an die Macht?
Halbach: Es tritt sicher keine «revolutionäre Konterelite“ an die Macht – ebensowenig wie in Georgien oder in der Ukraine. Die neuen Leute – Bakijew, Kulow, Otunbajewa u.a. – waren alle schon einmal auf hohen Regierungsposten des «ancien régime“ – ebenso wie Saakaschwili und Juschtschenko unter Schewardnadse bzw. Kutschma Minister gewesen waren. Die postsowjetischen Präsidialautokratien wie das Akajew-Regime in Kirgisistan haben einen hohen Verbrauch an Regierungspersonal. Es werden hochrangige Leute aus dem System ausgestoßen und finden sich oft in der Opposition wieder. Das heißt aber nicht, dass sie nicht neue Impulse in die Politik ihres Landes hineintragen könnten. Sie sind zunächst einmal aufgefordert, sich von der Lethargie und der Korruption des «ancien régime“ zu unterscheiden. An dieser Fähigkeit müssen sie sich messen lassen. In Georgien war der Regimewechsel mit einem deutlichen Generationswechsel in der Politik verbunden. In Kirgisistan wird dieser Generationswechsel nicht so sichtbar.
DAZ: Viel ist die Rede von einem Dominoeffekt seit der Ukraine. Was sind die wesentlichen Unterschiede zu Zentralasien, insbesondere Kirgisistan?
Halbach: Erste Analysen nach der «Rosenrevolution“ waren noch skeptisch, was den Nachahmungseffekt betrifft. Auch die Ukraine wurde damals noch nicht als Nachfolgekandidat gehandelt. Die Entwicklung dort zeigte dann aber, dass Georgien nicht die Ausnahme blieb. Der neue ukrainische Präsident und sein georgischer Amtskollege gaben beim gemeinsamen Urlaub in den Karpaten eine Erklärung über «eine neue Welle der Befreiung“ ab, die zum «endgültigen Sieg der Demokratie auf dem europäischen Kontinent führen wird.“ In dieser Euphorie wurden allerdings die Unterschiede bei den strukturellen Voraussetzungen für einen friedlichen Regimewechsel in der GUS in Hinsicht auf die Geschlossenheit oder Schwäche der amtierenden Machteliten, die Geschlossenheit und politische Reife der oppositionellen Kräfte, die Vitalität von Zivilgesellschaft und die Mobilisierbarkeit der Bevölkerung unterschätzt. Die Turbulenzen nach den Parlamentswahlen in Kirgisistan und ihr Kontrast zu den Ereignissen in Kiew fünf Monate zuvor machen solche Unterschiede deutlich. Im Unterschied zu Georgien und zur Ukraine geht der Regimewechsel in Kirgisistan nicht mit einer verstärkten außenpolitischen Orientierung nach Europa einher. Zentralasien ist nicht einmal ein Nachbarschaftsraum der EU. Deshalb hat Rußland darauf auch wesentlich gelassener reagiert als auf die «orangene Revolution“ in der Ukraine, die in russischen Kommentaren bis zum Exzeß «geopolitisiert“ und als Machtausdehnung des Westens in den postsowjetischen Raum interpretiert wurde.
DAZ: Kann in Kasachstan Vergleichbares passieren wie in Kirgisistan?
Halbach: In Kasachstan hat man sehr früh auf die «Rosenrevolution“ reagiert. Im November 2003 forderten Abgeordnete im Parlament ein neues Wahlgesetz und verwiesen dabei auf die aus Wahlfälschungen resultierenden politischen Gefahren, die in Georgien zum Umsturz geführt hatten. Im September 2004 unterlagen dann die Parlamentswahlen eben diesem Fälschungsverdacht. Von westlichen Beobachtern noch relativ zurückhaltend getadelt, wurden sie aus der Mitte der kasachischen politischen Elite heraus scharf verurteilt. Der amtierende Parlamentsvorsitzende Tuyakbai sprach von massiver Verletzung der Wählerrechte, was vor allem deshalb ins Gewicht fiel, weil sich hier der Ko-Vorsitzende der aus den Wahlen als Sieger hervorgegangenen Regierungspartei äußerte. Eine der führenden Oppositionsparteien, die «Demokratische Wahl Kasachstans“, trat während des ukrainischen Wahlkampfs an der Seite der Opposition gegen Kutschma in Kiew auf. Mit den Eindrücken von der «orangenen Revolution“ zurück in Kasachstan, rief sie auf ihrem Parteikongreß am 11.Dezember 2004 «alle gesunden Kräfte in der Gesellschaft“ dazu auf, «entschiedene Aktionen, einschließlich Aktionen des zivilen Ungehorsams“ gegen die „illegitime“ Regierung zu unternehmen.
Ein Gerichtsurteil bewertete dies als «Anstachelung zu ungesetzlichen Handlungen“ und verfügte die Auflösung der Partei. Wie in Usbekistan gingen auch in Kasachstan die Behörden gegen internationale NGOs vor – insbesondere gegen das von der Soros-Stiftung geförderte Open Society Institute. Als Kandidat für Regimewechsel galt Kasachstan dennoch nicht: Trotz wachsender Kritik an der Herrschaft Nasarbajews innerhalb der politischen und wirtschaftlichen Eliten gilt die Kontrolle des politischen Lebens durch den präsidialen Machtapparat als weitgehend gesichert. Auch die Unzufriedenheit der Bevölkerung reicht an georgische Verhältnisse gegen Ende der Schewardnadse-Ära nicht heran, ist das ressourcenreiche Kasachstan doch der wirtschaftlich erfolgreichste Staat in der Region. Aber nach dem Regimewechsel im Nachbarland Kirgisistan muß sich nun Nasarbajew doch verstärkt Gedanken darüber machen, wie seine Herrschaftsnachfolge zu regeln ist, wie weit dabei regierungskritische politische und wirtschaftliche Eliten, die sich in Kasachstan in letzter Zeit gebildet haben, einzubeziehen sind.
DAZ:„Opiumrevolution“ – so bezeichnete ein Moskauer Beamter die Vorgänge in Kirgisistan, einem Transitland für Drogen. Hat die Drogenmafia mitgestrickt am Sturz des Akajew-Clans?
Halbach: Die Gleichsetzung von Opposition mit Banditentum, Drogenbaronen und Gesindel hat Akajew lange vor den Wahlen intoniert. Ausländische Unterstützung für demokratische Wahlen hat er mit «bolschewistischem Revolutionsexport“ verglichen. Und mit dieser Verleumdung kann er sich an russische Kommentare anlehnen, die innenpolitische Opposition im GUS-Raum mit Unruhestiftern und mit Unterwanderung durch westliche Agenten gleichsetzen. «Opiumrevolution“ paßt in genau dieses Schema. Im Falle Kirgisistans verfängt dieses Stereotyp deshalb, weil insbesondere der Süden des Landes tatsächlich einen Hauptabschnitt der Drogenrouten aus Afghanistan durch den GUS-Raum bildet. Bakijew, Kulow oder Otunbajewa mit «Opium“ in Verbindung zu bringen, ist genauso wenig überzeugend wie die Verbindung des Namens Juschtschenko mit nationalistischem Extremismus, Antisemitismus und Faschismus, die in russischen Kommentaren hergestellt wurde.
DAZ: Bringt der Umsturz nun eine Liberalisierung der Presse in Kirgisistan mit sich?
Halbach: Nicht unbedingt. In Georgien nach der «Rosenrevolution“ wurde eher eine Verengung des Meinungs-und Medienpluralismus verzeichnet. Kirgisistan galt unter den zentralasiatischen Staaten auch unter Akajew als das Land, in dem noch ein relativer Grad an Medienfreiheit zu verzeichnen war, auch wenn die «Familie Akajew“ ihren wachsenden wirtschaftlichen Einfluß zunehmend über Funk-und Printmedien erstreckt hat.
DAZ: Vielen Dank für das Gespräch!
Uwe Halbach ist Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik Berlin, Forschungsgruppe Russland/GUS. Von ihm stammen zahlreiche Veröffentlichungen zu Sicherheitsfragen und Stabilitätsproblemen, Islam und Religionspolitik in den sowjetischen Nachfolgestaaten