Julia Schdanowa, mit Mädchennamen Walter, ist eine bemerkenswerte Frau. Trotz ihres ansehnlichen Alters – sie ist 89 Jahre alt – kommt sie immer wieder gerne ins Deutsche Haus in Almaty und nimmt stets an zahlreichen Veranstaltungen teil. Ohne Gram und Reue erzählt sie von ihrem Schicksal. Nachdem sie ihre Jugend in den verschiedensten Ecken der Sowjetunion verbracht hatte, verschlug es sie nach Alma-Ata, in die Stadt, in die sie sich schlussendlich verliebte und in der sie ihre Heimat fand.
„Ich wurde am 22. Dezember 1926 an einem schönen Ort geboren, in Sewastopol, wo ich bis zum Jahre 1941 lebte. Wir lebten gut, aber das Schicksal wollte es anders. Als ich 13 Jahre alt war, brach der Krieg aus und die Deportierung der Deutschen nahm ihren Anfang. Da wir in der Nähe des Meeres lebten, wurden wir auf dem Schiff verbracht, zuerst nach Batumi, wo wir ungefähr fünf Monate auf einer Teeplantage arbeiteten. Dann wurden wir nach Sibirien verschickt, es ging auf dem Ob per Schiff nach Nowosibirsk und dann mit dem Ochsenwagen weiter nach Barnaul. Dort wurden wir in Baracken aufgeteilt, und obwohl ich erst 14 Jahre alt war, kam ich ins Werk Nr. 662, welches zwei Etagen hatte und keinen Namen besaß, nur die Nummer.
Es gab viele Kinder. Die Frauen in der Zeche in der unteren Etage strickten Mützen für die Panzersoldaten, während wir Kinder in Scharen im oberen Stockwerk saßen und den fertigen Mützen Zubehör wie Ohrenschützer verpassten. Wir arbeiteten nur sechs Stunden am Tag, mehr war uns nicht erlaubt. Nach der Arbeit liefen wir sofort zu den Baracken, wo man uns 300 Gramm Brot austeilte. Wir mussten stets Hunger leiden. Die Erwachsenen arbeiteten 16 Stunden am Tag.
Erst 1956 war es den Deutschen erlaubt wegzuziehen. Auf die Krim wollte ich nicht, daher entschied ich mich, in den Kaukasus zu gehen, denn ich konnte mich noch sehr gut an das duftende Aroma der Teeplantagen erinnern, an die Stadt Batumi und an das Schwarze Meer. Ich sprach mich mit anderen Mädchen ab, und wir fuhren gemeinsam und nahmen uns dort zu dritt ein Zimmer bei Einheimischen – die Adscharen sind ein erstaunlich gastfreundliches und gütiges Volk. Sie waren sehr freundlich zu uns und ließen uns oft ihre Maisfladen probieren. Teeblätter sammelten wir nur zwei Monate im Jahr, im Mai und im September, wenn alles abblühte. Ich erinnere mich gut an die geradlinigen Pfade der Plantage – auf der einen Seite ging die Georgierin Lamara – ein gutes Mädchen – auf der anderen Seite ich. Lamara sammelte die Blätter sehr vorsichtig, aber langsam, während ich schnell pflückte, damit ich mehr Geld verdienen konnte. Der Brigadier Otari schimpfte immer mit mir: „Julia, was machst du da? Schau, wie brav Lamara ist, so sorgfältig, wie sie arbeitet.“ Am Ende des Monats, wenn wir zur Auszahlung zum Buchhalter gingen, bekam ich immer mehr Geld als Lamara, und sie war immer sehr betrübt deswegen. Ich tröstete sie und scherzte: „Lamara, du bist jeden Tag vom Brigadier gelobt worden und ich gerügt, jetzt bin ich einfach mal an der Reihe.“ Das Geld, das wir verdienten, legten wir in eine Sparbüchse, aus der wir immer wieder Kopeken herausnahmen, damit wir uns Essen kaufen konnten.
1958 stand ich brieflich mit meinen Eltern in Verbindung, die nach Alma-Ata gezogen waren und dort in einer kleinen Familienwohnung lebten. Mama konnte nicht lesen und schreiben, war aber sehr religiös; sie starb mit 70 Jahren. Papa arbeitete sein ganzes Leben lang unter schwersten Bedingungen; er starb drei Jahre nach meiner Mutter.
In Alma-Ata fand ich Arbeit als Kassiererin im Lermontow-Theater, 1964 bekam ich meine Wohnung, in der ich bis heute lebe. Ich heiratete Alexander Hamburg, der ebenfalls im Theater arbeitete. Er war großartig, aber ein Lebemensch, der viel um die Häuser zog. Drei Jahre nach unserer Hochzeit wurde er als begabter Ziehharmonikaspieler in die DDR eingeladen. Er wollte, dass ich mitkam, ich aber wollte Alma-Ata nicht verlassen.
1972 heiratete ich Anatoli, mit dem ich nun schon mehr als 40 Jahre zusammenlebe. Es ist verblüffend, dass wir beide aus Alma-Ata sind, uns aber in Dschambul kennenlernten: Er arbeitete für die Firma „Kazelektromontasch“ und war auf Dienstreise in Dschambul, während ich das Theater zu einer Gastvorstellung begleitete.
Auch Anatoli hatte ein schweres Schicksal hinter sich, da seine Familie zur Zeit der Revolution über Aschchabad aus dem Land flüchten musste. Er und seine Familie waren lange heimatlos und lebten unter schwierigen Bedingungen, bis Stalin ihnen die Rückkehr in die Sowjetunion erlaubte. Sie ließen sich erst in Omsk nieder, danach zogen sie in die Hauptstadt.
Ich bin sehr dankbar, dass mich das Schicksal zu so einem außergewöhnlichen Menschen wie Anatoli geführt hat. Er ist wirklich großartig, und ich durfte mit ihm alt werden. Was will man mehr…“
Olesja Klimenko
Übersetzung: Sabrina Kaschowitz