Dass Zuwanderer eine kulturelle und wirtschaftliche Bereicherung sind, steht außer Frage. Sie bringen neue Farben und Formen mit, neue Klänge und Gerichte, neue Werte, sie haben andere Talente und Fertigkeiten.

Aber sie bieten uns in noch einer anderen Hinsicht eine besondere Chance – uns unserer selbst bewusster zu werden. Wir denken über unser eigenes Deutschsein nach und werden auch mit unseren individuellen Macken konfrontiert. Allein das Problem – es ist schon schwer genug, das „Andere“, was uns vorgeführt wird, nicht als „falsch“ anzusehen oder gar als „störend“, sondern als neue mögliche Denkweise oder Handlungsalternative. Schon gar, wenn es so nebenbei als kleine Erscheinung auftritt. Denn gelernt haben wir früher, es wurde uns explizit mit dem Holzhammer eingetrichtert – von den Eltern, in der Schule, in der Ausbildung. Das Kapitel ist abgeschlossen, jetzt haben wir keine Zeit mehr. Wir müssen so viel erledigen. Wir hetzen durch unser Leben, tragen ständig unsere Liste im Kopf mit uns herum, auf der so viele wichtige Dinge stehen, damit … ja, damit … was eigentlich genau? Nun ja, aus irgendwelchen Gründen muss die Liste ja zustande gekommen sein, und so wird sie eben abgearbeitet. Auf meiner Liste zum Beispiel mit den überlebenswichtigen Dingen steht das Ausdrucken dieser Kolumne. Eigentlich ist sie ja fertig. Aber nur auf dem Bildschirm. Und darum auch nur eigentlich. Erst im Ausdruck finde ich noch das letzte Komma zu wenig oder zu viel, kann noch an zwei, drei Begriffen feilen, bis ich es dann endlich zufrieden bin und es noch vor dem Termin abschicken kann, denn man weiß ja nie. Ich will mein Bestes geben. Im Internet-Café noch im Stehen den Computer starten, dann schnell drucken. Doch – der Drucker funktioniert nicht. Die Druckerpatrone ist leer, sagt der türkische Knabe, mit vollen Backen seinen Döner kauend, den Kopfhörer noch auf, weil er sich einen Film ansieht. Kurze Panikattacke. Wie – kein Druck?! Und was jetzt?! Wieso tut er denn nichts?! Kurze Zeit sagt niemand etwas. Der Junge lächelt charmant. Kaut weiter. Zuckt mit den Schultern. Eine Unverschämtheit geradezu! Und ehe ich mich versehe, denke ich: Typisch! Und schon springt eine Synapse meines Hirns über zum volkswirtschaftlichen Verlust durch solch ein Verhalten. Fast schon will ich wütend rausstampfen, zu einem Internet-Café deutscher Inhaber eilen, weil dort immer alles tipptopp funktioniert, die Druckerpatronen auf Vorrat liegen… Aber etwas in mir schreit: Halt! Ich bekomme gerade noch eine Vollbremsung hin. Was passiert hier eigentlich gerade? Analyse des Ist-Zustands: Hier sind zwei Personen an einem „Vorfall“ beteiligt. Die eine der beiden Personen ist ganz entspannt, lächelt charmant, strahlt gute Laune aus. Die andere Person gerät gleich in Panik oder Wut oder beides, ist nervös, angespannt und strahlt überhaupt keine gute Laune aus – ich. Dabei möchte ich doch auch viel lieber gute Laune haben. Der junge Bursche zeigt mir doch, wie es geht. Ich formuliere in Worten, was er durch seine Körperhaltung ausdrückt: Ist doch nicht so schlimm. Es tut mir leid, aber gerade kann ich es nicht ändern. Dann muss eben später oder woanders gedruckt werden. Und weil es eben so ist, wie es ist, ist es viel zu schade, sich von einer leeren Druckerpatrone die Laune verderben zu lassen. Und wie ich so den Text probe, fühle ich mich mit einem Mal viel besser. Jetzt habe ich zwar keinen Ausdruck, dafür aber gute Laune.

Von Julia Siebert

05/05/06

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