„Bye bye Baby“ heißt der Film von Julia Boxler, der kürzlich beim DOC.Clique „Central Asian Documentary Film Festival“ in Almaty Premiere feierte. Darin kehrt die aus Kasachstan stammende Deutsche 2014 zum ersten Mal zurück in ihr Geburtsland – 18 Jahre, nachdem sie es als Kind mit ihrer Familie verlassen hatte.
Julia, „Bye bye Baby“ ist ein sehr persönlicher Film. Wie ist es für dich, diesen einer größeren Öffentlichkeit zu präsentieren?
Ich war, insbesondere vor der Premiere, sehr nervös. Es ist schwierig, sich selbst auf einer großen Leinwand zu sehen und sich selbst so preiszugeben. Deshalb hat es auch sehr lange gedauert, bis ich das Projekt fertigstellen konnte. Nach dem Dreh 2014 konnte ich das Material eine Zeit lang nicht anschauen. Ich habe erst eine Distanz dazu gewinnen müssen. Das hat drei Jahre gedauert. Erst nachdem ich auch etwas länger in Kasachstan gelebt hatte, konnte ich damit umgehen.
Das ist aber nicht selten bei solchen auto-ethnografischen Geschichten. Es ist schwieriger, damit umzugehen, als wenn du eine Geschichte über jemanden erzählst. Da kannst du dich distanzieren und der Beobachter sein. Sich selbst 61 Minuten lang anzuschauen und zuhören zu müssen, ist eine Herausforderung.
Wieso hast du dich dann für dieses Format entschieden, wenn es so schwierig ist?
Ich wollte in diesem autoethnografischen Projekt meine eigene Geschichte erzählen, nicht die eines anderen. Es war natürlich auch eine Art Verarbeitung.
Wie kamst du überhaupt auf die Idee, einen Film über deine Rückkehr nach Kasachstan zu machen?
Als ich ca. 14 oder 15 Jahre alt und endlich in Deutschland assimiliert war, ging mir auf, dass meine Identität trotzdem eng mit Kasachstan verbunden ist. Damals habe ich angefangen, mich dafür zu interessieren. Das war anfangs schwierig, weil ich Kasachstan bereits irgendwo in meinem Gedächtnis vergraben hatte. Dann fing ich an zu graben.
Später, als ich bereits im Filmbereich tätig war, entschied ich mich, mit einem Filmprojekt nach Kasachstan zurückkehren. Video ist eigentlich meine erste Liebe – das sieht man auch im Film. Wir hatten zwei Kameras: Ana, meine Kamerafrau, filmte mit einer 5D, die klare Aufnahmen macht, und ich hatte eine Handkamera, wo öfter mal verwackelte Aufnahmen in einer Art Homevideo-Ästhetik entstehen.
Letztlich ist es eine Art Collage der Perspektiven und Erzählformen geworden. Die erste Kamera zeigt den Blick auf mich, die zweite meinen eigenen. Vor allem in der Montage viel Arbeit, es so zu schneiden, dass es nicht nur für mich, sondern auch für den Betrachter Sinn macht. Mir war von Anfang an klar, dass ich Film machen werde, der aus einer klassischen Erzählform fällt. Es sollte ein Dokumentarfilm mit experimentellen Elementen werden.
Wie hast du dich gefühlt, als du 2014 zum ersten Mal nach Kasachstan zurückgekommen bist?
Das ist im Film, glaube ich, ganz gut festgehalten. 18 Jahre später ist es ja nicht mehr das Land, das ich mit zehn Jahren verlassen und in Erinnerung habe. Es ist erstens eine andere Julia, zweitens ein anderes Land. Vor allen Dingen verändert sich ein Land nach so einem Umbruch wie 1991 viel, viel schneller. Mir war klar, dass ich in eine andere Realität komme, und eigentlich nirgendwohin zurück. Trotzdem habe ich mich intuitiv, vom ersten Augenblick an, noch am Flughafen quasi, wohlgefühlt und konnte mich orientieren. Ich habe gleich eine Sympathie verspürt und mich hier in diesem Chaos wiedergefunden, zum Beispiel sogleich beim Schlangevordrängeln an der Passkontrolle (lacht).
In vielen Szenen seid ihr unterwegs, entweder auf der Straße oder im Zug. Welche Orte habt ihr besucht?
Ja, manchmal erkennt man das nicht im Film, aber das ist auch nicht so wichtig. Wir waren im Norden, Nordosten und in Zentralkasachstan. Wir sind in Astana gelandet, waren dann im ehemaligen Naturschutzgebiet Borowoje und in meiner Heimatstadt Kökschetau. Ich hatte schon in Deutschland beschlossen, dass wir diese Orte meiner Kindheit irgendwann hinter uns lassen und ganz woanders hinfahren, um Abstand zu gewinnen und mehr in das Land zu gehen. Deshalb fuhren wir später mit dem Zug bis zum Altai-Gebirge nach Semipalatinsk. Von dort aus wollten wir direkt zum „Zentrum Eurasiens“.
In Semipalatinsk haben wir ein Taxi genommen und sind 300 Kilometer in die Steppe gefahren. Dort, mitten im Nichts, steht diese kleine Pyramide, das das Zentrum des Eurasischen Kontinents sein soll. Es ist anscheinend ein mythischer Ort, an dem auch Abai gelebt haben soll. Da steht sein Haus und eine große Büste von ihm. Daneben ist ein riesiges Mausoleum, was kilometerweit in der Steppe sichtbar ist wie eine Fata Morgana. Diese kasachstanische Mystik kommt auch in meinem Film vor: In Kasachstan gibt es einen Mix aus Kulturen, Religionen . Das finde ich sehr spannend, und dieser Ort schien mir als einer der surrealsten.
Anschließend sind wir mit dem Auto nach Ust-Kamenogorsk gefahren und dann weiter in die Bergbaustadt Ridder. Und von dort aus ging es weiter zum Altai-Gebirge. Über eine Freundin meines Onkels Igor in Astana hatten wir unseren Führer Sergej gefunden, der zwei Tage lang dort mit uns unterwegs war. Und das ist auch so typisch Kasachstan für mich: Wir kannten diesen Menschen gar nicht, aber er hat alles für uns organisiert, und es hatte sofort etwas Familiäres.
Das zieht sich durch den gesamten Film: Egal, wo wir hinkamen, wir wurden sofort empfangen und zum Essen und Trinken eingeladen. Dann sind wir zurück nach Astana geflogen und haben uns dort mit meiner Familie in Astana und meiner Tante Inna getroffen, die extra aus Sibirien gekommen war, um mich zu treffen.
Hast du deiner Familie den Film gezeigt? Wie haben sie reagiert?
Ja, mein Opa liebt den Film und hat ihn, glaube ich, schon oft angesehen. Aber mein Großvater ist auch begeistert vom Fotografieren und Filmen, und schickt mir ständig Fotos und Videos über Whatsapp. Irgendwann muss ich einen Film aus seinen Homevideos machen (lacht). Für meine Eltern und andere Familienmitglieder war der Film sehr berührend. Ihr Feedback war mir sehr wichtig, auch weil die Filmform so vom durchschnittlichen Sehverhalten abweicht.
Du hast von 2015 bis 2017 in Kasachstan gelebt. Wie hat sich das Leben seit deiner ersten Rückkehr 2014 hier verändert?
Mein Film spielt ja im Norden, ich habe aber in Almaty gelebt. Das ist noch einmal etwas ganz anderes, weil ich auch hier mit anderen Leuten verkehrt habe. Einige, die den Film in Almaty gesehen haben, meinten, er sei wie ein Flashback in ihre eigene Kindheit. Dabei ist das Kasachstan 2014, nicht die Sowjetunion. Kökschetau und Borowoje scheinen einigen hier vom Süden aus sehr fremd.
In Almaty ist alles schon sehr europäisch; es ist eine pulsierende Metropole im Vergleich zu einer mittelgroßen Stadt wie Kökschetau. In der letzteren habe ich damals allerdings die stärkeren Emotionen erlebt, was ich nicht erwartet hatte. Ich dachte, die Stadt sei sehr grau und postsowjetisch. Das war aber überhaupt nicht so. Ich fand sie sehr jung und dynamisch, und auch schön. Das hat mich tatsächlich überrascht.
Von Borowoje hingegen war ich eher enttäuscht, weil ich damit sehr schöne Kindheitserinnerungen verbinde, als wir dort früher in den Ferien wandern oder schwimmen waren. Jetzt ist alles zugebaut, es gibt Hotelanlagen und Bezahlstrände. Damals war es ein Naturschutzreservat, wo es nichts außer kleinen Ferienlagern gab. Das hat mich während der Aufnahmen negativ berührt.
Kasachstan verändert sich rasend schnell im Vergleich zu Deutschland, auch Strukturen können sich hier von einem Tag auf den anderen ändern, zum Teil gravierend. Und das kann in beide Richtungen gehen: progressiv, aber auch regressiv. Diese ganze Region ist von einer dauerhaften Wandlung bestimmt. Das finde ich sehr spannend und deshalb komme ich auch immer wieder gerne hierher. Gesellschaften im Umbruch sind für mich interessanter als Gesellschaften, in denen Umbrüche langwierige Prozesse sind.
Was hast du nach deiner Zeit bei der DAZ gemacht? An welchen Projekten arbeitest du im Moment?
Ich war mit dem IJP-Stipendium in Moskau bei dem unabhängigen Fernsehsender „Doshd“, der aufgrund seiner oppositionellen Haltung nur noch online oder im Pay-TV zu sehen ist. Das waren sehr lehrreiche drei Monate. Ich habe gelernt, wie man trotz weniger Mitteln und schlechter technischer Ausstattung ein Programm herstellt, was zeitgenössisch und progressiv ist.
Ich habe in der Vergangenheit bei der Deutschen Welle gearbeitet, und da gibt es ganz andere Möglichkeiten, aber auch recht eingefahrene Strukturen. Da ich gerne Formen mag, die Brüche haben und nicht perfekt sind, war es sehr spannend zu sehen, wie ein Nachrichtensender das nutzt, obwohl natürlich mehr aus Not als aus einer Entscheidung heraus. Das ist einzigartig in Russland.
Bei „Doshd“ arbeiten viele sehr junge Journalisten, die sich ausprobieren können. Es herrscht überaus viel Idealismus. Da sind Menschen, die etwas erreichen wollen in ihrem Leben, aber auch für Russland. Es ist ein Ideal, nach dem sie streben, eine Art Gerechtigkeit. Sie machen zum Teil auch einen sehr gefährlichen Job.
Danach bin ich zurück nach Deutschland gegangen und fange jetzt an, selbstständig an Projekten zu arbeiten. Mein Wunsch ist es, meine Arbeit mit Kasachstan, Russland und diesem postsowjetischen Raum zu verbinden. Außerdem soll mein Film auf Festivals gezeigt werden. Parallel habe ich zwei andere Filmprojekte, die derzeit in der Entwicklungsphase sind.
Als Nächstes geht es nach Nowosibirsk für erste Aufnahmen und Recherchen an einem Projekt zu Camgirls. Im zweiten Projekt geht es um Migrationsorte in Deutschland, Übergangsheime, Lager, etc. Ich selbst habe drei Jahre an solchen Orten verbracht. Es geht darum, wie diese „Orte der Ankunft“ eine Identität prägen.
Du hast nach der Premiere in Almaty gesagt, „Bye Bye Baby“ sei auch der „Film einer Suche“. Hast du gefunden, was du gesucht hast?
Ja, es war ein Versuch, wieder eine Verbindung zu Kasachstan aufzubauen, weil es komplett aus meinem Leben verschwunden war. Und das ist mir gelungen.