Von Kasachstan nach Deutschland und zurück: Die Geschichte der Spätaussiedlerin Frida Schäfer, die von sich sagt, ihr letzter glücklicher Tag sei im Januar 1942 gewesen – kurz bevor ihr Vater von sowjetischen Staatsdienern verschleppt wurde.

/ Bild: Diana Laarz. ‚Die Kasachstandeutsche Frida Schäfer fand ihr Glück weder in Deutschland noch in Kasachstan.’/

Frida Andrejewna Schäfer war 68 Jahre alt, als sie loszog, ihre Heimat zu suchen. Ganz allein. Die Kuh Soika blieb zurück und, ach ja, Tochter Galja auch, mitsamt ihrem gottverdammten Ehemann. Frida fuhr nach Almaty, dann nach Moskau, und als sie am Amsterdamer Flughafen Schiphol beim Umsteigen nicht mehr weiter wusste, hat sie einen von diesen netten Herren in Uniform gefragt. „Entschuldigen Sie, wie komme ich denn jetzt nach Hannover?“ Ein paar Tage später, in Bremen, in ihrem neuen Wohnviertel, wo die Bäume den Kampf gegen das Grau längst verloren haben, klingelte Frida Andrejewna Schäfer, zehnter Stock, an die Tür ihrer Cousine Erna Schneider, siebter Stock. Die Cousine, gerade beim Mittagessenkochen, sagte: „Was willst du denn hier?“ Und nichts weiter.

Frida Andrejewna Schäfer war 74 Jahre alt, als sie sich endgültig zu alt für das Suchen fühlte. Sie packte ein paar Klamotten zusammen, die deutsche Bibel, einen Edelstahltopf, der nach Ikea aussieht, und fuhr wieder zum Flughafen Hannover. Zurück in Kasachstan sagte Tochter Galja: „Was willst du denn hier? Wir haben dich nicht gerufen.“ Die Kuh war verkauft. Ein paar Tage später fiel Frida Andrejewna Schäfer um. Schlaganfall, die linke Körperhälfte vorübergehend gelähmt. Wenn sie hört, wie die russischen Pelmeni beim Einfüllen gegen den deutschen Edelstahltopf klackern, muss sie an Bremen denken. „Ich tät zu Fuß dorthin zurückgehen“, sagt sie. Noch einmal fliegen? Ohne Wohnung, ohne Rente? Die deutschen Gesetze sind nicht besonders geeignet für Menschen, die nicht genau wissen, wo sie hingehören, solche, die es noch nie gewusst haben.

Wie das Pendel einer Standuhr

Frida Schäfer lebt in Pokrowka, einem Dorf am unteren Ende Kasachstans im Niemandsland zwischen der ehemaligen Hauptstadt Almaty und dem nächsten Hochgebirge. Wenn sie über die staubige, schnurgerade Komsomolskaja-Straße trottet, dann wankt der alte massige Körper hin und her wie das Pendel einer Standuhr. Das weiße lange Haar zum Knoten geschlungen, den Kopf hält sie etwas höher, als es nötig wäre. In der linken Hand ein Beutel Schmand, gelb und dick wie Butter, die einen Moment zu lang in der Sonne stand. Selbst gemacht von der Nachbarin gegenüber, nicht das dünne Zeug, das es im Supermarkt gibt. In der rechten Hand ein Brot, dieses Mal das gute für 45 Tenge, umgerechnet 25 Cent. Sie lebt in einem Raum, der Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche zugleich ist, die Ritzen im Fensterrahmen sind mit Klebestreifen geflickt. Die russische Sprache kennt ein Wort dafür: Kladowka, Abstellkammer. Das Klo steht draußen unterm blühenden Apfelbaum. Auf dem Tisch liegen, behütet in einer zerknitterten Folie, neben Antibiotika und Blutdrucksenkern, die Papiere, die Frida Schäfers Identität belegen sollen. Eine AOK-Versichertenkarte, noch gültig, ein deutscher Reisepass und ein maschinenbeschriebenes Blatt Papier. Deutscher Adler auf blassrosa Papier. Bescheinigung nach Paragraf 15, Absatz 1 und 2 des Bundesvertriebenengesetzes. Nummer 4011/3520. Frida Schäfer, geboren am 30. Mai 1932 in Jurjew-Polskij, wird am 24. Oktober 2000 als Spätaussiedlerin in der Bundesrepublik Deutschland willkommen geheißen.

Eine Hand wuchtet durch schwarz-samtenes Haar. Hände, die es gewohnt sind, in der Erde zu graben, die Jahre haben die Haut in Leder verwandelt. Der Dreck aus Küche und Garten hat sich unter die kurzen Fingernägel gefressen. Frida Schäfer zerteilt grob einzelne Haarsträhnen, flicht ein hellblaues Band ein, der Kopf der Enkelin Luisa schwankt mit jedem Bürstenstrich mit. Luisa hält den Blick starr auf die Mangafiguren im Fernsehen gerichtet. Über das dröhnende japanisch-russische Stimmengewirr aus den Lautsprechern wirkt das Schweigen zwischen den beiden Menschen im Raum noch lauter. Es ist kurz vor zwölf Uhr. Luisa wird für die Schule fein gemacht. Jeden Wochentag um diese Zeit geht Frida Schäfer die paar Schritte rüber zu dem Haus, in dem Tochter Galja wohnt und deren Ehemann. Ein Haus, das sie von ihrer deutschen Rente bezahlt hat. Das betritt sie jetzt nur noch, um zu zeigen, dass sie das Schweigen aushalten kann. „Denk daran, in einer halben Stunde kommt deine Mutter, um dich abzuholen“, brummelt Frida Schäfer noch beim Rausgehen in Richtung der Enkelin. Keine Antwort, Japanisch aus dem Fernseher.

Sie erwartet, sie fordert Dank

Die Tochter ist zum Essen vorbeigekommen. Ausnahmsweise. „Ich fahre einkaufen, brauchst du etwas?“ „Wie soll ich das wissen, wenn ich es nicht sehe. Lass mich mitfahren.“ „Brauchst du etwas oder nicht?“ „Ich weiß nicht“. Dann wieder Schweigen. Frida Schäfer thront auf der Bettkante, die Arme über die Brust verschränkt, sie hält sie wie ein Schutzschild vor sich. Sie werfen aneinander kurze scheue Blicke zu. Besteckklappern, draußen wütet Hund Dusik. Statt Worten stehen unausgesprochene Vorwürfe im Raum. Frida Schäfer sagt, sie sei zurückgekommen, um der Tochter zu helfen. Doch Galja braucht keine Hilfe. Galja will, dass die alte Mutter ruhiger wird, weniger arbeitet, sich nicht beschwert. Die Mutter sagt, sie habe alles bezahlt. Das Haus, in dem nun der ungeliebte Schwiegersohn wohnt. Das Spielzeug, das die Enkelin keines Blickes würdigt. Sie erwartet, sie fordert Dank. Und erhält – mit einer Armbewegung fasst sie das ganze Elend im Zimmer zusammen – 120 Euro im Monat. Das bekommt eine Rentnerin, die es gewagt hat, Kasachstan zu verlassen, und die dann wiederkam.

Die besten Pelmeni der Plattenbausiedlung

Ein Foto im Album zeigt Frida Schäfer vor etwa acht Jahren. Sie hält die sechs Monate alte Luisa auf dem Arm, ein Lächeln, die beiden Goldzähne blitzen. Dann ältere Gruppenbilder. Jung gebliebene Menschen halten Schnapsgläser in den Händen, drum herum sieht immer alles mehr oder weniger nach Baustelle aus. Die Szenerie wechselt. Wieder Grüppchen, diesmal grauhaarig. Rüschengardinen vor den Fenstern, Weingläser auf den Tischen, dazwischen eine gebratene Ente, bundesdeutsche Weihnachten im Plattenbau. Jeder hat jemanden zum In-den-Arm-Nehmen und Anlehnen. Frida Schäfer sitzt mitten unter ihnen, aber sie ist allein. Als sie in der Bremer DRK-Kleiderkammer, in der sie manchmal beim Sortieren aushilft, erzählt, dass sie zurück nach Kasachstan geht, rurft die Kollegin: „Hol mal einer einen langen Stecken, die Frida gehört geschlagen, die weiß ja gar nicht, was sie tut.“
Die letzte Bilderserie ist bei Nacht aufgenommen. Fast immer steht da in Kasachstan ein Fahrzeug mit geöffnetem Kofferraum. Und davor ein Paket so groß wie ein Reisekoffer. Frida, die Deutsche, hat deutschen Wohlstand geschickt, Hosen, Blusen und Bettwäsche. Ein Paket für die Nachbarin, eines für die Freundin, eines für die Schwester, ganz viele für die Tochter. Ein Foto fehlt. Als das letzte Paket ankam, war Frida Schäfer schon längst wieder in Kasachstan.

Alle nannten sie Babuschka, sie kochte die besten Pelmeni der Plattenbausiedlung. Frida Schäfers Lieblingsplatz in Bremen war eine Bank im Einkaufszentrum, links der Plus, rechts der Komet, im Plus ist alles etwas billiger. Als sie zum ersten Mal dort einkaufen ging, konnte sie die lateinischen Buchstaben auf den Packungen nicht entziffern. Sie packte in den Korb, was gut aussah. Dann kaufte sie eine deutsche Bibel und lernte damit die Sprache. Sie hatte Zeit. In ihrer Einraumwohnung standen ein Bett, ein Schrank, ein Tisch und ein Stuhl. „Eine sehr hübsche Wohnung.“ Als sie eines Tages wieder verloren vor dem Supermarktregal stand, sprach eine grauhaarige Frau sie an. Es war Emilia Knoll, auch aus Kasachstan nach Bremen gekommen. „Na, was stellst du hier so an?“, fragt die Frau, die später nur noch „die Miele“ heißt. Miele lud Frida Schäfer zu sich nach Hause ein. Da gab es noch mehr Gestrandete.

In Deutschland hat Frida Schäfer einen Menschen sterben sehen. Beim Bremer Ehepaar Hamann, an die 90 Jahre alt, ging sie, die 70-Jährige, einmal in der Woche putzen. Staubsaugen, fegen, Staub wischen, immer mit trockenem Tuch, was anderes mochte Mutter Hamann nicht. Einmal lag da ein Eurostück auf dem Küchenboden, dann eine Woche später wieder. Frida Schäfer brachte beide zur alten Hamann und sagte: „Versuche mich nicht, ich nehme deine Mark nicht.“ Danach lag nie wieder ein Geldstück auf dem Boden, und irgendwann war Erna Hamann nicht mehr da, lag im Krankenhaus, Krebs im Endstadium. Frida Schäfer ging jeden Tag hin und setzte sich ans Bett. Sie gibt viel, wenn die Menschen zurückgeben. „Ein guter Mensch“, das ist das höchste Lob, das Frida Schäfer kennt. Sie verteilt es selten.

Noch mehr Gestrandete

Einmal, als Frida Schäfer in Bremen auf einer Bank saß und mit Freundinnen sprach, hielt ein junger Mann an: „Sprecht gefälligst Deutsch.“ Das tat Frida Schäfer dann: „Wenn euer Hitler nicht gewesen wäre, dann hätte ich meinen Vater noch lange gehabt.“ Ende der 40er Jahre hörte die Jugendliche Frida Schäfer in Russland von Kindern aus dem Nachbardorf, die an Hunger starben. Sie wurden im Schnee verbuddelt, nachts gruben die Wölfe sie wieder aus. Sie dachte, sie sei die nächste. Um den Gedanken zu verscheuchen, arbeitete sie.

„Immer bei den Leuten, nie zu Hause“

Als Hitlers Armeen vor Moskau standen, war für Frida Schäfer der erste Schultag in der zweiten Klasse einer Stalingrader Grundschule. „Glaubt den Leuten nicht, der Krieg ist bald vorbei“, sagte die Lehrerin. Kaum 24 Stunden später kauerte Frida Schäfer schon in einem Viehwagon, der gen Osten rumpelte. Von einem Tag auf den anderen war es ein Makel geworden, Volksdeutsche zu sein. „Sibirien ist ein kaltes Loch, ach wär ich an der Wolga noch“, sangen die Deutschen, als der Zug über die Schwellen holperte. Im Altaigebirge wurden sie ausgeladen, schufteten, bis sie vor Schmerzen, Hunger und Kälte zusammenbrachen. Im frostigen Januar 1942 sah Frida Schäfer ihren Vater Heinrich zum letzten Mal. Auf einer Kutsche holten sie ihn ab. Sie sah einen großen, starken Mann. Selbst, als er zusammengesunken auf der Kutsche hockte. Gesagt hat er nichts, nur geweint. „Ein guter Mann. Der letzte glückliche Tag in meinem Leben.“ Das Grab von Heinrich Schäfer wurde nie gefunden.

Als die Deutschen endlich aufhörten, die Russen abzuschlachten, quälten die Russen die Deutschen in ihrem Land weiter. Raus aus dem Dorf durften sie nicht, was sie ernteten, mussten sie abgeben. Für ein gestohlenes Kilogramm Weizen gab es zehn Jahre Knast. Frida Schäfer machte das, was gerade gebraucht wurde. Melkerin, Traktoristin, trug die Haare raspelkurz und die Hemdsärmel hochgekrempelt. Wer ihr zum ersten Mal begegnete, wusste nicht, wer da vor einem steht, Mann oder Frau. Sie zog nach Kasachstan, in der Steppe versammelte der Sowjetstaat all die unzuverlässigen Völker: Tschetschenen, Krimtataren, Koreaner, Russlanddeutsche. Anfang der 90er Jahre löste sich das Land von der totalitären Sowjetunion. Als Pastor Otto Brillinger zum deutschen Gottesdienst irgendwann nur noch mit 20 Gläubigen betete, ging auch Frida Schäfer. Die Deutschen in Kasachstan verließen in Heerscharen das Land. Auf nach Deutschland, und wenn nicht dahin, dann wenigstens nach Russland. Nur weg. Ihnen haftete dabei immer das Vorurteil an, nicht ihrem Volk, sondern dem Wohlstand entgegen zu laufen. „Ob ich eine Deutsche bin, na das geht doch keinen was an.“ Frida Schäfer sagt Sätze immer so, dass alle wissen: Widerworte sind nutzlos.

In Bremen, zwischen Supermarkt und Scheidemannstraße, erinnern sich manche noch an Frida Schäfer. „Immer bei den Leuten, nie zu Hause.“ Und wenn doch, dann stand sie auf ihrem Balkon und sprach von dort aus mit den Passanten. Die Jahre haben Trauer in Resignation verwandelt. „Sie hat es sich nicht ausreden lassen“, sagt die Cousine Erna Schneider. „Jeder Mensch muss selbst entscheiden, was er macht“, sagt die Freundin Elvira Sell, und man hört das Achselzucken in der Stimme. Sie fragen nicht, wie es der Zurückgekehrten geht. Sie haben vor vielen, vielen Monaten das letzte Mal mit ihr telefoniert. Frida Schäfer hat dem, was sie ihr Glück nennen, den Rücken gekehrt. Bei Elvira Sell hat Frida Schäfer die letzte Nacht in Deutschland verbracht. Nun hat die alte Freundin nicht viel Zeit, um über die Vergangenheit zu reden. Sie muss die Enkel hüten, raus ins Freie. „Es gibt ja so schöne Spielplätze in Bremen.“

Leben zwischen Plus und Komet

Es ist ein eisgrauer Januartag, als Frida Schäfer Deutschland verlässt. Der Cousine aus dem siebten Stock hat sie nichts verraten. Sie will leise gehen. Sechs Uhr morgens ist es noch still und dunkel in der Siedlung. Vor der Tür steht schon Elvira, sie will Lebewohl sagen: „Es ist wohl das letzte Mal, dass wir uns sehen.“ Sie weinen, aber nur ein bisschen. Miele und ihr Mann bringen Frida Schäfer nach Hannover zum Flughafen. Sie steigt in das Flugzeug, blickt nicht zurück. Sie hat, was sie braucht, die Bibel und den Edelstahltopf. Sie freut sich auf Kasachstan. Heimat hat sie in Deutschland nicht gefunden. Glück auch nicht. Nirgendwo.

Es ist Frühling in Kasachstan. Durch ihr Fenster sieht Frida Schäfer den Garten. Die Tomatenpflanzen sind knöchelhoch, unter den Apfelbäumen wuchert das Unkraut. Morgens, wenn die Sonne noch nicht auf die graue Erde brennt, streunt sie zwischen den Beeten umher und schafft Ordnung. Manchmal träumt sie davon, sie könne sich einfach in ein Flugzeug setzen, nach Deutschland fliegen, wieder Leben zwischen Plus und Komet. Wenn sie keine Wohnung bekommt, egal, sie könnte in einem Schlafsack in der DRK-Kleiderkammer schlafen. Sie hat die Obdachlosen in Bremen gesehen, sie weiß, wie Leben auf der Straße aussieht. Ihre Bekannten werden ihr Essen bringen. Ihre Stimme, sonst dröhnend wie ein Traktor, wird leise. Frida Schäfer weint. Nur für einen Moment, dann wischt sie mit einer müden Bewegung die Tränen ab, erhebt sich, stöhnt wie eine alte Dampflok und nimmt eine Zinnschüssel aus dem windschiefen Regal. Zwei Eier müssten auch noch irgendwo sein. Ein paar Pfannkuchen könnte man doch schnell machen, bevor die Dämmerung einbricht und die alkoholkranke Nachbarin, wie jeden Abend, anruft, nach Geld oder einem letzten Schluck fragt.

Von Diana Laarz

Teilen mit: