Das Moskauer Stadtgericht hat den ehemaligen Jukos-Besitzer Michail Chodorkowski im Berufungsverfahren zu acht Jahren Lagerhaft verurteilt. Kurz vor der Urteilsverkündung war sein Anwalt Robert Amsterdam in Berlin. In einem exklusiven DAZ-Interview schätzt er die aktuelle Lage der russischen Rechtsprechung ein und kritisiert die deutsch-russischen Beziehungen.

Welchen Eindruck haben Sie von dem Finale der Geschichte?

Seit Chodorkowski verhaftet wurde, habe ich immer gesagt, dass man ihn einsperren wird. Die Verteidigung hatte keine Zeit zur Vorbereitung auf die Berufungsverhandlung. Das Gericht hatte alle Materialien nur für eine Woche zur Verfügung. Das steht absolut nicht im Einklang mit dem russischen Gesetz. Der ganze Prozess war eine Farce. Die Geschwindigkeit, mit der der Prozess vorangetrieben wurde, ist unvorstellbar. Die Sache wurde clever durchgeführt: Man versuchte Chodorkowskis Registrierung als Kandidat für einen Sitz in der Duma zuvorzukommen. Die gesamte Gerichtsmaschinerie arbeitete darauf hin. Unglaublich! Aber das ist erst der Anfang der Geschichte.

Sie sagen, es gebe keine Chancen. Trotzdem haben Sie sich an diese Arbeit gemacht. Wie schätzen Sie Ihren eigenen Erfolg in dem Prozess ein?

Kein Anwalt kann sich nur mit sicheren Rechtsfällen beschäftigen. Von meiner Rolle und der Rolle der anderen ist es jetzt zu früh zu reden. Der Streit ist auf dem Höhepunkt.

Sie haben gesagt: „Mein Mandant ist im Gefängnis, aber es gibt Gründe zum Optimismus“.

Solche Entscheidungen werden üblicherweise revidiert. Wir setzen keine Hoffnung auf die Werkzeuge des Gesetzes, aber im politischen Sinne gibt es große Erwartungen. Sagen wir es so: Ich hoffe, dass im Laufe der Zeit die Gruppe, die an weiterem Druck interessiert ist, schwächer wird und die andere Gruppe, die russische Interessen besser anspricht, an die Macht kommt. Alles kann sich nach den nächsten Präsidentenwahlen ändern.

Es kursiert die Meinung, Chodorkowski hätte nur eine Chance, solange man von ihm redet. Er wird ständig zur Informationsquelle. Kann es sein, dass man ihn leise Schritt für Schritt vergisst?

Das glaube ich nicht. Nelson Mandela hat 26 Jahre im Gefängnis verbracht, und niemand hat ihn vergessen. Chodorkowski ist zwar nicht Mandela, aber auch nicht weniger.

Was wird mit dem Ex-Jukos-Chef weiter passieren?

Man wird ihn früher oder später freisprechen. Ich hoffe, als Rechtanwalt daran beteiligt zu sein.

Wie stehen Sie zur Duma-Kandidatur Ihres Mandanten?

Die wichtigste Eigenschaft eines Leaders ist es, Vorbild zu sein. Er ist die einzige oppositionelle Kraft unter der Bedingung größter Verwundbarkeit. Wenn ein Mensch, der sich mit 16 anderen Häftlingen die Zelle teilt, den Mut hat, für die Duma zu kandidieren, sollte man die Zukunft Russlands optimistischer betrachten. Die Frage ist nicht, ob er den Wahlkampf gewinnen könnte. Das Wichtigste ist sein Wille und auch, dass die Menschen außerhalb der Gefängnismauern ihn unterstützen.

Als Ruslan Chasbulatow neben Ihnen vor deutschem Publikum sprach, sagte er, die Mehrheit der Bevölkerung in Russland mag die Reichen nicht. Das gehe aus Umfragen hervor. Also kann Chodorkowski trotz seines edlen Benehmens im Gefängnis keine neuen Sympathien gewinnen?

Die Reden von Sympathien und Antipathien zu Chodorkowski beschäftigen mich nicht besonders. Ich bin nicht sicher, ob man den Moskauer Umfrageergebnissen glauben kann, wo sein Wahlkreis gewesen wäre. Ich habe Moskau besucht und weiß, dass er in bestimmten Gruppen äußerst populär ist. Den Angaben der Verwaltung glaube ich auf keinen Fall. Wir haben private Forschungen durchführen lassen und deren Ergebnisse stehen im Widerspruch zu den offiziell veröffentlichten Angaben. Momentan habe ich keine genauen Zahlen, aber zwischen zehn und elf Prozent der Befragten wollen Chodorkowskis Kandidatur zum Präsidenten. Natürlich kann man darüber in der Presse nichts lesen. Es ist nicht nur ein Spiel mit Zahlen. Sogar Chodorkowskis Gegner sind von seinem lobenswerten Benehmen im Gefängnis begeistert. Deshalb mag ich den Begriff „Oligarch“ gar nicht. Chodorkowski kann man nicht als solchen betrachten.

Warum?

Putin will, dass alle den Begriff „Oligarch“ nutzen. Aber dieses Wort meint „Feind des Volkes“. In Russland sind die, die man so nennt, keine Oligarchen. Es sind Leute, die in den 90er Jahren riesige Reichtümer angehäuft haben. Auch Bill Gates hat in den 90ern ein riesiges Vermögen geschaffen, und man liebt ihn auch nicht besonders. Ich habe viele Jahre in oligarchischen Systemen gearbeitet. In Zentralamerika gibt es Oligarchen, die sitzen nicht im Gefängnis. Sie haben nicht nur ökonomische, sondern auch politische Möglichkeiten. Stellen Sie Chodorkowski als Mensch vor Gericht, aber ohne dieses Brandmal!

Sie behaupten, die Sache Chodorkowski habe sehr schlechten Einfluss auf das Image Russlands, dass die russische Macht sich diskreditiert habe. Aber kein Staat hat wegen der Probleme mit der Rechtsprechung in Russland ihre Kooperation abgesagt. Sind Rohstoffe wichtiger?

Wollen wir mal die Dinge beim rechten Namen nennen: Es gibt keine Demokratie in Russland, und die Regeln werden jeden Tag verändert. Nur die größten Konzerne, die sich auf bedeutende politische Garantien stützen, können es sich heute leisten, in Russland zu investieren. Zum Beispiel die Energie-Konzerne. Ich habe in Afrika gearbeitet. Ich kann sagen, in Nigeria gibt es eines der schlimmsten Regimes der Welt. Aber alle großen Ölkonzerne sind dort vertreten. Und was könnten sie tun? Es gibt Öl in Nigeria.

Erklären Sie bitte Ihre Aussage, dass das Verhalten von Bundeskanzler Schröder in den deutsch-russischen Beziehungen eine Schmach sei.

Sich ein Freund Russlands zu nennen und gleichzeitig der Ungesetzlichkeit zu applaudieren! Deutschland freut sich auf die Pipeline, sollte sich deswegen aber schämen. Würde denn Russlands Freund einen Transit fördern, der Vereinbarungen mit Polen widerspricht? Was die baltische Pipeline angeht, sollten die deutschen Politiker ihre Taktik revidieren. Für Russland soll man gemeinsame europäische Kriterien anwenden. Es ist jetzt wahnsinnig, auf den russischen Markt ausländische Unternehmen einzuladen, wo sie dann alle und alles bestechen müssen. Das ist Wahnsinn, weil das zu einer Anarchie führt. In den USA versteht man, warum amerikanische Firmen bereit waren, 25 Milliarden US-Dollar für die Jukos-Tochter Juganskneftegas zu zahlen und dass die russische Regierung sie für neun Milliarden mit Hilfe eines Kredites der Deutschen Bank gestohlen hat. Dass Chirac, Berlusconi oder Schröder bereit sind, diese Spiele zu spielen, bedeutet nicht, dass es richtig ist. Und die engen Kontakte von Putin und Schröder, in drei Jahren haben sie sich über 40 Mal getroffen, sind für beide Länder gefährlich.

Mit Robert Amsterdam sprach Julia Uraktschejewa.

07/10/05

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