Für Traditionen kann sich Kolumnistin Julia Siebert begeistern. Auch wenn sie selbst nicht alle befolgen will, freut sie sich, dass es andere Menschen gibt, die Traditionen pflegen.

Alte Traditionen finde ich toll. Nicht, dass ich sie unbedingt selbst befolgen wollte, aber ich finde es beruhigend, wenn sich andere Leute darum kümmern, dass Traditionen nicht gänzlich aussterben. So lange es noch Hutmacher, Schuster und Tischler in kleinen Werkstätten gibt, ist die Welt nicht ganz verdorben und verloren.

Zuletzt in Wien durfte ich wieder einmal eine alte Tradition kennen lernen: die Hofreitschule. Das klingt schon im Anschlag nach alt, ehrwürdig, Tradition, Maßanzug, Handwerk, aufrecht, geordnet, reglementiert und Hut. Eine für mich fremde Welt, drum musste ich ganz unbedingt voyeuristisch nachschauen gehen, was da vor sich geht und mich mal ein wenig in Ehrfurcht üben. Ich wurde nicht enttäuscht.

Ich wäre auch mit einer ordentlich gefegten und leicht verzierten Reithalle einverstanden gewesen, doch mir öffnete sich: Ein Prunksaal mit Kronleuchtern, Gemälden, mit Logenplätzen und Säulen. Es gab zwei Ebenen, so dass ich mir vorkam wie in der Oper. Der Saal wirkte für sich selbst und war seinen Eintritt wert, auch ohne Auftritt von Reitern. Doch junge schlanke Burschen in strammen Uniformen trabten aufrecht und elegant zu Walzermusik auf ihren Lipizzanern durch den Saal. Das hatte Stil. Und ich musste mir vergegenwärtigen: Wir sind immer noch im 21. Jahrhundert. Wir sind mitten in Wien, wo draußen zwar auch Kutschen, aber doch eher moderne Autos um die Kurven flitzen. Und dies ist ein Training, vielmehr Arbeit. So wie andere Menschen um 6.00 Uhr in der Früh aufstehen und sich ihren Anzug oder Overall anziehen, vor ihren PC setzen oder hinter Maschinen stellen, durch die Welt jetten oder im Netz surfen, Dächer decken und Frisuren stutzen, ziehen diese jungen Männer ihr Gewand an, besteigen ihren Lipizzaner und traben unter Kronleuchtern durch einen Prunksaal. Netter Job! Stelle ich mir vor.

Zu gerne würde ich die jungen Burschen dazu interviewen, wie sie ihre Tätigkeit ausdrücken und empfinden: „Ich muss zur Arbeit, Liebling.“ oder „Ich gehe auf Schicht.“ Ob die Gattinnen im Frisiersalon mit stolzgeschwellter Brust verkünden: „Mein Mann ist bei der Hofreitschule!“ aber daheim stänkern: „Du stinkst nach Pferd!“ Ob das ein begehrter Job ist oder wird man von seiner Ahnenreihe in diese Tradition gezwungen? Ob es da auch eine Stechuhr gibt, Gehaltserhöhungen, Überstundenausgleich, Weihnachtsgeld und Weihnachtsfeiern? Gibt es Teamarbeit oder macht jeder seins? Wie schaut es mit Mobbing aus, machen sich die Jungs kurz vor dem Auftritt gegenseitig die Frisuren ihrer Pferde durcheinander? Und wie sieht es überhaupt mit der gleichberechtigten Teilhabe von Frauen, Behinderten und Migranten aus?
Fragen über Fragen … zu einer kleinen eigenen Welt, die vermeintlich abgeschottet mitten in einer großen offenen Welt stattfindet, sicherlich weniger spannend ist, als ich sie mir vorstelle, mir aber in meiner hektischen Welt eine kleine Verschnaufpause gewährt. Zwei Stunden den Lipizzanern beim Traben zusehen ist entspannender als fünf Stunden Meditation. Es dauert eine Weile, bis ich mich wieder an das städtische Treiben gewöhnt habe: Hui, nicht so schnell, nicht so hell und nicht so laut, bitte! denke ich, als ich aus dem Saal trete. Und hoffe, dass es diese Hofreitschule noch lange lange geben wird.

Julia Siebert

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