Maria Gliem aus Frauenwaldau, dem heutigen Bukowice in Polen, hat einen Teil ihrer Kindheit als Vertriebene verbracht. Ihre Flucht führte sie nach Hessen, wo vor 70 Jahren die ersten Heimatvertriebenen ankamen. In ihrer heutigen Heimat trägt Gliem dazu bei, dass ihre Erinnerungen an die Zeit in Polen und die Flucht nicht in Vergessenheit geraten. Aus diesem Grund hat sie ihre Geschichte aufgeschrieben. Die DAZ veröffentlicht mit ihrer Erlaubnis Auszüge aus ihrer Niederschrift.
Am 25. Juni 1945 hatten wir und Frenzels das Gepäck schon aufgeladen, da fing es an zu regnen. Also blieben wir noch einen Tag länger dort. In der Nacht darauf kamen Zigeuner in das Dorf, ausgerechnet in unserem Garten ließen sie sich nieder. Mitten in der Nacht hörten wir einen lauten Knall und eine Frau schrie jämmerlich. Sie war auf eine Miene getreten und hat dabei ein Bein verloren. Wir hatten drei Wochen in diesem Garten gespielt. So hatten wir wie so oft einen Schutzengel gehabt, auch in Anbetracht dessen, dass den Frauen nichts geschehen war, zumal die Kommandantur ganz in der Nähe war. Am 26. Juni 1945 wollten wir nach Osten. Drei Kilometer hatten wir schon geschafft, da kam uns ein riesiger Flüchtlingstreck entgegen. Die Polen jagten alle Deutschen, die noch in der Heimat waren oder zurückgekehrt waren, wieder in Richtung Westen.
Schlesien wurde nun von den Polen besiedelt, die von den Russen vertrieben worden waren. So mussten auch wir wieder mit dem Treck in Richtung Westen, Opa ist fast verrückt geworden. Nach vielen Tagen auf der Strasse kamen wir wieder in Liegnitz (Legnica) an und wieder regnete es. Unterwegs mussten alle Wagen durch einen großen Park fahren. Fast das ganze Gepäck wurde uns weggenommen, vor allem die Federbetten. Es dauerte viele Stunden bis der ganze Treck durch den Park geschleust war. Tante Agnes hat in der ganzen Zeit die Posten beobachtet und unter Lebensgefahr die Kopfkissen zurückgeholt. Es war zwar Sommer, aber Hansel war ein halbes und Ali zweieinhalb Jahre alt, und wir wussten ja nicht, wie lange wir noch so umherziehen würden. Einige Russen, die wohl in der Nähe stationiert waren, brachten ein paar Eimer Suppe für die Kinder. Wir bekamen auch etwas ab, aber sie war viel zu fett und wir bekamen Durchfall. Die polnischen Posten des Trecks verboten den Russen sofort, den Deutschen etwas zu essen zu geben, als sie es bemerkten. Die Nacht darauf schliefen wir im Wald. Wasser zum Kochen musste einen Kilometer weit entfernt geholt werden und das unter Bewachung, damit ja keiner zurück ging.
Am Morgen ging es sehr früh weiter, an dem Park vorbei, der kniehoch mit aufgeschlitzten Betten und Sachen übersät war. Es regnete wieder den ganzen Tag, abends waren wir total durchnässt, konnten aber in einer Scheune übernachten. Es wurde ein Ruhetag eingelegt und wir konnten unsere Sachen etwas trocknen, mussten aber aufpassen, dass sie nicht verschwanden. Am nächsten Tag ging es weiter, den ganzen Tag laufen, laufen, laufen, nur eine halbe Stunde Rast. Für die Kinder war es am schlimmsten. Mutter hatte für Hansel zwei Fläschchen gemacht, aber er weinte den ganzen Tag vor Hunger. Tante Agnes suchte am Waldrand immer nach Erdbeeren und schob sie dem armen Kerlchen in den Mund. Nach etlichen Tagen kamen wir in das Dorf Kreibau (Krzywa). Hier mussten alle von der Straße runter. Wir wurden mit 108 anderen Personen gegen 22 Uhr im Saal eines Gasthauses untergebracht. Wie wir diese Strapazen ohne Verpflegung und ohne Wasser überstanden haben, weiß ich bis heute nicht. Der Besitzer war sehr ungehalten, wollte niemanden reinlassen, aber die polnische Miliz ließ keine Einwände gelten. Wir waren wieder mal angekommen.