Der Ägypter Hany Ghanem inszeniert am Deutschen Theater Almaty „Woyzeck“ Der Regisseur, Schauspieler und Autor, der in Deutschland lebt,wünscht sich, dass jeder Schauspieler sich eigenständig und intensiv mit dem Stück auseinandersetzt.
Der Tisch ist gedeckt. Schrilles Gelächter durchflutet den Raum. Eine dunkle, zitternde Gestalt bittet die Besucher zum Mahl. Die stumme Gestalt beäugt prüfend das Gedeck. Alles scheint bereit, doch dann löscht sie ein Licht nach dem anderen und der Saal versinkt in Dunkelheit. Der Ort dieses Geschehens: Das Deutsche Theater Almaty, die dunkle Gestalt: Hany Ghanem am Beginn seiner Aufführung „Kaspar“. Doch wie kommt nun ein ägyptischer Schauspieler und Regisseur an ein deutsches Theater in Kasachstan?
Hany Ghanem sammelte seine ersten Erfahrungen mit dem Theater bereits während seiner Zeit in der Schule. Nach dem Abitur 1984 beginnt er sich dem professionellen Theater zu widmen und spielt an einem Volkstheater in Kairo. Danach arbeitet Ghanem einige Jahre im kommerziellen Theater und spielt für das so genannte „StarKino“. Sein weiterer Weg führt ihn nach Erfahrungen als Regieassistent beim Film und beim Theater in die freie Theaterszene. Nach neun Jahren Erfahrung im Theaterbereich ist für ihn der Zeitpunkt gekommen, etwas Eigenes auf die Beine zu stellen. Dabei spielt der Zufall Regie. Genau zu dieser Zeit ist eine deutsche Regisseurin in Ägypten und sucht Schauspieler für die Inszenierung des Peter-Handke-Stücks „Die Stunde“. Ghanem liest die Annonce in der Zeitung und will sich zum Casting anmelden, doch er kommt zu spät. Das Casting ist bereits gelaufen, die Annonce ist veraltet. Hany will schon wieder gehen, doch bietet ihm die Regisseurin die Gelegenheit, sein Können spontan unter Beweis zu stellen. Ghanem erinnert sich: „Ich stand dann insgesamt eine Stunde auf der Bühne, ich realisierte all die Aufgaben der Regisseurin und habe schon fast eine eigene Performance geschaffen, nur durch ihre Vorgaben.“
In der Folge spielt Ghanem einen Monat mit diesem Theater. In diesem Umfeld kann er erste Kontakte zum deutschen Kulturinstitut und zum Goethe-Institut in Kairo knüpfen. Dort hilft man ihm auch, ein Theater-Labor einzurichten. Aus dieser Zusammenarbeit heraus und dem Wunsch, eigene Wege des Theaters zu gehen, entwickelt sich 1994 das Projekt der freien Theatergruppe „Rebellion“. Eine der ersten Produktionen ist seine Solodarbietung nach der Vorlage des Stücks „Kaspar“ von Peter Handke. Die Theatergruppe wird eine der bedeutendsten der ägyptischen freien Theaterszene werden. Die Theatergruppe widmet sich vor allem der Aufführung von zeitgenössischen Stücken. Mit Hilfe des Goethe-Instituts und des Kulturinstitutes schafft Ghanem auch eine Verbindung zur freien westlichen Theaterszene. Ghanem kann mittels zweier Stipendien an Theatern in Deutschland weitere Erfahrungen sammeln. Die deutsche Sprache erlernt er nach dem Besuch von Basiskursen im Selbststudium. Grammatische Regeln hasst er, sie schränken ihn ein. Viel wichtiger ist ihm, Inhalte und Aussagen von Texten zu begreifen und eigene Texte verfassen zu können.
Die Möglichkeit zur Arbeit in Kasachstan ergibt sich über Kontakte zum Leiter des Goethe-Instituts in Kairo, Richard Künzel, der später an das Goethe-Institut in Almaty wechselt. Der Wunsch nach einer Kommunikation der freien Theaterszene Ägyptens mit jener in Zentralasien geht so in Erfüllung. Ghanem spielt über einige Jahre hinweg seine Performance „Kaspar“ am Deutschen Theater in Almaty. Von seinem Können überzeugt und von der verschiedenartigen Methode des Theaterspielens fasziniert, bietet ihm der künstlerische Leiter des Deutschen Theaters an, das Stück „Woyzeck“ zu inszenieren. Ein Traum Ghanems wird dadurch Wirklichkeit. Die Faszination des Stücks liegt für Ghanem darin: „Das erste Mal in der Theatergeschichte ist der Held aus dem einfachen Volk. Der Held ist nicht Leuten wie Macbeth, Ödipus oder Hamlet ähnlich, oder Figuren, die gegen das Schicksal und gegen Kräfte außerhalb der Natur kämpfen. Und das ist eine neue Ebene des Mythologiegedankens.“ Ghanem sieht dieses Stück Büchners an der Grenze des Übergangs vom Ideentheater zum psychologischen Theater. Eine spezielle Bedeutung im Kontext Kasachstan will er dem Stück nicht geben, da für ihn als Künstler nicht der Ort, sondern die Aussage im Zentrum steht. Dieses Verständnis spiegelt sich auch in der Arbeit mit den Schauspielern des Deutschen Theaters wider. Die Tatsache, dass die Schauspieler nicht muttersprachlich Deutsch sprechen, baut Ghanem geschickt in seine Arbeit mit ein. Wichtig ist Hany Ghanem das Verständnis, worum es in dem Stück geht, welche Vorstellung oder Idee man von dem Thema hat, und nicht, dass jedes Wort ganz richtig ausgesprochen wird. Gleichzeitig bringt Ghanem eine völlig neue Art des Erarbeitens von Stücken an das Deutsche Theater in Almaty. Seine Methodik ist zu Beginn für die Schauspieler sehr ungewöhnlich, denn man erwartet, dass er die Richtung, die ein Stück nehmen solle, vorgibt. Ghanems Ansatz ist dagegen ein anderer. Er fordert, dass jeder Schauspieler sich eigenständig und intensiv mit dem Stück auseinandersetzt und eine „Idee“ für sich herausarbeitet. Die so entstandenen Ideen werden schließlich zusammengetragen, und eine völlig neue Form des Textes kann entstehen.
Für ihn selbst ist an einem Text entscheidend, dass dieser eine gewisse „Energie“ in sich trägt. „Ohne Energie gibt es keine Möglichkeit, neue Energien zu entdecken und zu entwickeln“, betont Hany Ghanem. Die Entdeckung einer Energie in einem Text ist daher ein Hauptkriterium bei der Auswahl seiner Stücke. Die Suche bzw. Vorbereitung kann dabei auch sehr lange dauern, denn Ghanem beschäftigt sich sehr intensiv mit seinen Projekten. Das Stück „Woyzeck“ hat er 1996 zum ersten Mal gespielt und weiter bearbeitet, den „Kaspar“ entwickelt er seit 1994 immer weiter und an Stücken wie „Faust“, „Macbeth“ oder „Ödipus“ kann die Vorbereitung durchaus noch länger dauern.
Seinen Aufenthalt in Kasachstan und die Zusammenarbeit mit den Schauspielern vom Deutschen Theater bezeichnet Ghanem als sehr bereichernd. Da die ursprünglichen Vorstellungen von dem Land nicht mit der Realität vor Ort übereinstimmen, muss er die vielen neuen Eindrücke verarbeiten und macht so neue Erfahrungen. Demnächst wird Ghanem an der Schauspielakademie Unterricht für die Studenten der Masterclass geben. Sein nächstes Projekt wird das Stück „Die drei Schwestern“ von Anton Tschechow sein. Eine Rückkehr nach Kasachstan und Almaty ist auf keinen Fall ausgeschlossen. Hany Ghanem ist 38 Jahre alt, geboren in der Nähe von Kairo. Er lebt in Berlin.
Von Wolfgang Wimmer
31/03/06