Im Gedenken an Heinrich Rahn
„Kühle Ströme
mich durchfließen –
bis zum nächsten
Übergang.
Meine Seele
wandert weiter,
da die andre
sie erwartet.“
(aus „Silberweide“)
Ihn prägte eine besondere Liebe zur Natur, zu den Bäumen, zum Leben und zu Energien, die er in vielen Dingen sah und spürte. Es zog ihn zu dem Außergewöhnlichen, dem Mystischen, zum Licht und fernen Galaxien, zum Unbegreiflichen, das er greifbar machen wollte, zu unergründlichen Weiten, die in anderen Universen lagen. Der russlanddeutsche Autor und Lyriker Heinrich Rahn verstand es wie kein anderer, die Grenzen der Wirklichkeit mit dem Magischen verschmelzen zu lassen, die Fantasie anzukurbeln und seine Leserinnen und Leser in fremde Welten und auf spannende Abenteuer zu entführen. Auch sein Talent als Dichter soll nicht unerwähnt bleiben: Tiefgehend, sinnlich, berührend, herzergreifend und bilderreich sind seine zahlreichen Gedichte in deutscher und russischer Sprache über die Liebe und das Dasein des Menschen. Der außergewöhnliche Schreibstil des Autors sowie die – in allen Sinnen dieses Wortes – fantastischen Handlungsmotive seiner Werke, erfüllt von poetischen Beschreibungen voller Liebe zur Natur und zum Universum, wurden als „magischer Realismus“ und „phantastische Literatur“ bezeichnet.
Oh, Sonne, Sonne,
las mich doch nicht fallen!
Erfass mein Körper, bieme in das Reich
des ew’gen Lichts, wo jedes Teilchen mein
geladen jubelt, sprudelt, leuchtet grell!
(aus „Vorstoß ins Ungewisse“)
Heinrich Rahn kam am 13. April 1943 in Sparau, im Gebiet Saporoschje (Ukraine) zur Welt. Im Jahr 1944 wurde die Familie von der Wehrmacht nach Deutschland umgesiedelt. Ihr Weg führte über Warthegau in den Ort Schrepkow, etwa 12 Kilometer von der Elbe entfernt. Doch dort endete die Odyssee der Familie leider nicht. Im November 1945 wurden die Rahns, wie viele ehemalige Sowjetdeutsche, von der Roten Armee „repatriiert“. Doch die Familie kehrte nicht in ihren Heimatort zurück, sondern wurde ins Kostromagebiet nach Russland verschleppt. Der Vater wurde zu 25 Jahren Haft verurteilt, so musste die Mutter ihre drei Kinder mihilfe ihrer alten Tante durchbringen. Nach der Aufhebung der Kommandanturaufsicht im Jahr 1956 wurde der Vater amnestiert. Später zog die Familie nach Kasachstan. Heinrich Rahn schloss dort die Mittelschule ab, studierte an der Ingenieurschule und war jahrelang als Bauingenieur tätig. Die Familie lebte in der Stadt Schtschutschink. Im Jahr 1990 siedelte Heinrich Rahn mit seiner Ehefrau Elvira sowie seinen beiden Kindern Artur und Helene nach Deutschland um. Nach der Übersiedlung war er noch einige Jahre als Bauingenieur und Bauleiter tätig.
„Gierig schau’ ich den Himmelsring an.
Lauten da Schwanenhälsen Saiten.
Herz mein’, wach auf und jubel und sing
und eile in verlockenden Weiten.“
Doch seine Leidenschaft galt schon immer der Literatur. Bereits im Alter von 19 Jahren begann Heinrich Rahn, seine ersten Gedichte auf Russisch zu verfassen. Darüber hinaus war er ein begeisterter und leidenschaftlicher Leser. Seine Freizeit verbrachte er am liebsten mit einem Buch. Damals war es in der Sowjetunion beinahe unmöglich, Bücher in deutscher Sprache zu ergattern. Doch Heinrich Rahn schaffte das Unmögliche: Immer wieder gelang es ihm, an deutschsprachige Bücher zu kommen. Er fand sie in abgelegenen Dorfläden, und eines der Bücher fand er sogar in einem alten Schuppen! In seiner Sammlung fanden sich klassische Werke von Goethe, Schiller, Heine und Storm. Bei seiner Übersiedlung nach Deutschland nahm Heinrich Rahn all seine Bücherschätze mit.
Im Jahr 2001 ging er in den Vorruhestand und konnte sich fortan auf das Literaturschaffen konzentrieren. Noch während seiner beruflichen Beschäftigung schloss Heinrich Rahn das Fernstudium „Belletristik“ an der Axel Andersson Akademie in Hamburg ab. In den nachfolgenden Jahren veröffentlichte der Autor zahlreiche Gedichte, Poeme, Kurzgeschichten und schrieb drei Romane, die im Geest-Verlag erschienen sind: „Der Jukagire“ (2008), „Aufzug Süd-Nord“ (2011) und „Die Birkeninsel“ (2018). Er veröffentlichte seine Bühnenwerke unter dem Titel „Die Nichts-Energie“, und kurz vor seinem Tod erschien das letzte Buch von Heinrich Rahn: „Märchen im Rhein-Main-Gebiet und aus anderen Sphären“, das mithilfe eines Autorenstipendiums des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst veröffentlicht werden konnte.
Sonnenteilchen – Sonnenwind,
wirbelt durch das dunkle All.
Unaufhörlich jagt geschwind
Sonnenwind.
(aus „Sonnenwind“)
Am 3. Januar 2022 verließ Heinrich Rahn diese irdische Welt. Mit seinen faszinierenden und seelenberührenden Werken leistete er einen großen Beitrag für die Entwicklung und Vielseitigkeit der russlanddeutschen Literatur. Heinrich Rahn nahm immer begeistert an den Seminaren des Literaturkreises der Deutschen aus Russland teil, dem er viele Jahre als Mitglied angehörte, und wirkte mit großer Leidenschaft und aktiv bei kulturellen Veranstaltungen und Lesungen mit. In der Erinnerung seiner Literaturkolleginnen und -kollegen, aber auch seiner Leserinnen und Leser, die ihn persönlich kannten und erleben durften, bleibt Heinrich Rahn als ein herzensguter, stets gut gelaunter und äußerst aufmerksamer Mensch. Auch die Musik spielte in seinem Leben eine große Rolle. Neben seinem literarischen Talent begeisterte Heinrich Rahn immer wieder mit seiner kräftigen und tiefen Gesangsstimme. „Er sprach sogar so melodisch, als würde er singen“, erinnern sich seine Mitmenschen an die besondere Energie seiner Stimme.
Anlässlich seines Geburtstages am 13. April, an dem der Autor 79 Jahre geworden wäre, veranstaltete die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland in Karlsruhe am 23. April eine musikalische Gedenklesung mit den Werken von Heinrich Rahn. Dabei wurden seine Gedichte in russischer und deutscher Sprache vorgetragen. Von Heinrichs russischen Gedichten inspiriert, komponierte der Musiker Oleg von Riesen zu einem der lyrischen Werke den „Rahn-Tango“. Darüber hinaus interpretierte er auf dem Piano das Lied der Vertriebenen „Himmelsring“, das von Heinrich Rahn vor einigen Jahren geschrieben wurde und das dem Autor sehr viel bedeutete.
Auch Ehefrau Elvira und Tochter Helene nahmen an der Lesung teil. Dabei stellte Helene Rahn das neue Buch ihres Vaters vor. Der Sammelband war im Dezember 2021 im Geest-Verlag erschienen. In Anschluss gab es noch eine kleine Gesprächsrunde, bei der Helene Rahn einen Einblick in das Privatleben und die literarischen Schaffungsprozesse ihres Vaters gewährte. Moderiert wurde das Gespräch von Ida Martjan, einer der Organisatorinnen der Veranstaltung.
Die Lesung wurde mit dem Lied „Erinnerung“ abgeschlossen, das Oleg von Riesen zu dem gleichnamigen Gedicht der russlanddeutschen Schriftstellerin und Lyrikerin Nora Pfeffer komponiert und mit einer selbstgedichteten Strophe sowie einem Refrain ergänzt hatte. „Die Erinnerung ist dir geblieben. Schlimm und tragisch wär nur das Vergessen.“, heißen die letzten Zeilen des Liedes. Und darüber waren sich alle Anwesenden am Ende einig: Die Erinnerung in Form von Literatur soll weiterleben, damit die nachkommenden Generationen ihre eigene Geschichte und Kultur kennen und damit die Namen derjenigen, die dieses kulturelle Erbe schaffen und bewahren, nicht in Vergessenheit geraten.
Wenn
sich die Knospen aufs neue entsprießen.
Wenn
warmer Regen die Jungen berieselt,
dann nach Verderben
kommen die Erben…
Ob ihn‘ das Blühen gelingt?
(aus dem Lied der Vertriebenen -„Himmelsring“)
Weitere Informationen zum Leben und Lebenswerk des Autors Heinrich Rahn findet man auf seiner Homepage unter: https://herahn.wixsite.com/mysite