Ganz unscheinbar taucht das Gebäude des Zentralen Staatsarchivs Kasachstans hinter hohen Bäumen auf – ein U-förmiger sowjetischer Bau, in dem die kasachische Geschichte gesammelt, kategorisiert und konserviert wird. Der Bestand des Archivs erstreckt sich von schriftlichen Quellen über Fotos, Film- und Audioaufnahmen, bis hin zu Karten, Bildern und Gemälden. Insgesamt sind hier bis zu einer halben Million Dokumente beherbergt. Die Mitarbeiter des Archivs katalogisieren sie, um sie der forschenden und interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen.

„Unser Archiv ist die wichtigste Gedächtnisinstitution Kasachstans“, sagt Direktor Sabit Shildebay. Seit einem Jahr leitet er das Staatsarchiv und plant eine flächendeckende Modernisierung der bisherigen Verwaltungsstrukturen: Er setzt sich für eine neue Website, zeitgenössische Archivierungsmethoden, regelmäßige Publikationen und internationale Forschungskonferenzen ein. Sogar ein weiterer Gebäudeanbau und eine Zweigstelle in der Hauptstadt Nur-Sultan sind vorgesehen. „Das Interesse an der kasachischen Geschichte steigt und unser Archiv konnte in letzter Zeit mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Früher war das Archiv nicht öffentlich zugänglich und der Bevölkerung war nicht bewusst, was wir hier eigentlich tun. Das möchten wir nun ändern. Wir wollen die kasachische Nationalgeschichte nach außen hin kommunizieren“.

Geschichtliche Spurensuche bis ins 16. Jahrhundert

Doch die Modernisierungspläne stehen vor großen Hindernissen. Es fehle an Finanzierung, um Platzprobleme zu beheben und die technische Ausstattung zu erneuern. „Archivierung erfordert viel Zeit und Kraft“, sagt Shildebay. „Wir haben nicht genug Mitarbeiter, um den gesamten Bestand zu sichten. Wir wissen teilweise gar nicht genau, welche Quellen und welche technischen Geräte sich in diesem Gebäude befinden“. Es braucht Restaurateure, moderne Technik und ausgebildete Fachkräfte, um historische Dokumente zu identifizieren und sie zur weiteren Verwendung verfügbar zu machen. Ein dafür eingerichtetes Verwaltungsbüro soll sich mit diesen Problemen auseinandersetzen und dem Archiv zu effizienterer Arbeit verhelfen.

Offiziell wurde das Staatsarchiv schon 1921 gegründet. Hier sollten alle historischen Dokumente, die für die Geschichte Kasachstans Bedeutung haben, aufbewahrt werden. Die meisten Quellen stammen aus der zaristischen und sowjetischen Zeit, aber auch Quellen aus dem 16. Jahrhundert finden hier ihren Platz. Einige Artefakte kommen aus dem Iran, aus der Türkei oder aus China, und wurden für die nationale Sammlung zurück nach Kasachstan gebracht. Heute gliedert sich das Archiv in drei Abteilungen: Das Zentrale Staatsarchiv verwaltet den allgemeinen Quellenbestand, während sich zwei weitere Bereiche mit forschungsrelevanten Schwerpunktsammlungen − Geschichte der Medizin, Geologie oder Demographie − sowie Foto-, Film- und Audioquellen beschäftigen.

Auch der große Hunger unter Stalin ist Thema

Obwohl das Ziel des Archivs die Konservierung kasachischer Nationalgeschichte beinhaltet, steht ebenso der Umgang mit der sowjetischen Vergangenheit im Mittelpunkt. „Seit der Unabhängigkeit Kasachstans sind schon 30 Jahre vergangen, dennoch ist unsere Geschichte immer noch eng mit der sowjetischen Geschichte verbunden“, so Shildebay. Besonders die landesweite Hungersnot Anfang der 1930er Jahre markiert ein zentrales Forschungsthema des Archivs. Ähnlich wie der Holodomor in der Ukraine brannte sich diese Zeit in das kasachische Nationalgedächtnis ein. Zwischen 1931 und 1933 starben Schätzungen zufolge bis zu 49 Prozent der kasachischen Bevölkerung an Hunger und Krankheit. „Ob wir hier von einem Genozid sprechen können, ist stark umstritten. Hungersnöte werden nach internationalem Recht nicht zwingend als Genozid anerkannt. Außerdem haben wir keinen Zugang zu den historischen Belegen für dieses Ereignis. Protokolle des Politbüros aus dieser Zeit befinden sich beispielsweise im Moskauer Staatsarchiv. Wir wissen aber, dass der verantwortliche Funktionär Filipp Goloshchyokin von den Hungertoden in Zentralasien wusste und diese auch in Briefen und Telegrammen erwähnte“.

Sabit Shildebay und seine Mitarbeiter bemühen sich, das Mosaik der kasachischen Nationalgeschichte zu vervollständigen. Während die Funktion des Archivs simpel ist – sammeln, ordnen und veröffentlichen –,erweist sich die Umsetzung als schwierig. Dennoch lockt das Archiv immer mehr Studierende und Historiker an, auch das Bedürfnis nach akademischer Arbeit auf internationalem Niveau spornt den Direktor an: „Das Geschichtsstudium an den kasachischen Universitäten muss internationaler werden, und so auch wir“.

Antonia Skiba

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