Hartmut Koschyk eilt geschäftig ins Sitzungszimmer. Streckt schon auf Entfernung grußfertig seine Hand aus. Entledigt sich seines dunkelblauen Anzug-Sakkos, hängt es ordentlich über die Stuhllehne, seine auf der Hemdmanschette eingestickten Initialen kommen zum Vorschein. Er lockert ein wenig die schräg gestreifte Krawatte, streicht sich über den akkurat kurz gescherten Kopf und signalisiert mit einem freundlichen Blick in die Augen seines Gegenübers seine nun ungeteilte Aufmerksamkeit. Gerade hat der gestandene Politiker seine Rede bei einer Konferenz in Moskau hinter sich, engagiert und überzeugend wie immer wird ihm anerkennend nachgesagt. Gerade hier in der Russischen Föderation und schon zu Sowjetzeiten habe er schon unzählige Auftritte gehabt, sagt er. Der Osten war und ist ihm stets besonders nahe.
Denn: Hartmut Koschyk ist Sohn heimatvertriebener Oberschlesier. Seine Frau Gudrun – sie sind seit über 30 Jahren verheiratet und haben drei Kinder – stammt aus einer sudetendeutschen Familie. Frühe Sozialisationserlebnisse und lebenslang gepflegte Kontakte zu der großen Verwandtschaft über alle Grenzen hinweg prägen unauslöschlich seine Mentalität und seine weltlichen wie religiösen Auffassungen.
Früh habe er mitbekommen, sagt er, wie aus der Zuversicht des Glaubens trotz des erzwungenen Verlustes der angestammten Heimat die Kraft erwachsen könne, sich woanders heimisch zu fühlen, ohne diese zu vergessen. Dankbarkeit zollt er Eltern und Schwiegereltern für einen „unverkrampften und versöhnenden Zugang“ zu deren Heimat, für die daraus erwachsene Identität und gefestigte Wertüberzeugungen.
27 lange Jahre saß Koschyk im Deutschen Bundestag. In einer politischen Gruppierung wie sie maßgeschneiderter für einen wie ihn kaum sein kann: „Christlich“ liegt ihm von Haus aus, das „Soziale“ desgleichen, der Wunsch nach „Union“, nach Einigung und Einheit ist auch schon immer fest in Herz und Hirn des Hartmut Koschyk verankert – und Bayern ist ja doch der „Freie Staat“, in den er schließlich hineingeboren wurde. Also CSU, was sonst – inzwischen ist er bereits seit 40 Jahren Mitglied. Obwohl: Der Vater, gelernter Destillateur, und die Mutter, Erzieherin, waren zwar beide „politische Menschen“, jedoch eher sozialdemokratisch beziehungsweise liberal-politisch geeicht.
Zur vergangenen Bundestagswahl 2017 hat sich der 59-Jährige nicht mehr zur Wahl stellen wollen und sich vom politischen Tagesgeschäft zurückgezogen. Aus freien Stücken: „Manche kleben ja an ihren Stühlen, ich musste mich dafür noch rechtfertigen“, erklärt er nicht ohne Stolz. Aber ganz bleiben lassen kann er es natürlich nicht und wohl nie. Er ist unter anderem Ratsvorsitzender der Stiftung „Verbundenheit mit den Deutschen im Ausland“ und Initiator sowie Erster Vorsitzender des „Alexander von Humboldt-Kulturforums Schloss Goldkronach e.V.“.
Letzteres sozusagen zuhause, denn das Schloss zu Goldkronach, über Jahre stilgerecht restauriert, gehört zwar ihm, die Familie bewohne aber „nur“ fünf Zimmer in dem mächtigen Anwesen, beruhigt er schmunzelnd. Und auch der Namensgeber des Forums kommt nicht von ungefähr: Die polyglotte, freiheitlich-offene Geisteshaltung des Universalgelehrten und Welterforschers Alexander von Humboldt scheint selbst zu seinem 250. Geburtstag im nächsten Jahr unvermindert die menschlich geprägte Richtschnur für Koschyks eigenes Denken und Handeln zu sein: Wissens- und Gedankenaustausch über alle Grenzen hinweg, Vermittlung und Verteidigung jener Werte, die gemeinhin als das Erbe europäischer Kultur gelten.
In diesem Sinne fordert Hartmut Koschyk heute auch energisch mehr Diskussionsbereitschaft mit Russland. Er nennt es mehr echte „Volks-Diplomatie“. Zu dieser Humboldt’schen Einstellung passten auch schon seine humanistische Schulbildung im oberfränkischen Forchheim und danach seine freiwilligen fünf Jahre bei der Bundeswehr, der er noch heute als Oberstleutnant der Reserve dient. Neben den Studien in Geschichte und Politische Wissenschaften an der Universtät Bonn rief dann gleich und folgerichtig die Politik.
1983 arbeitet er zunächst als Wissenschaftlicher Mitarbeiter eines CDU-Abgeordneten im Deutschen Bundestag. Mit gerade 31 Jahren wurde er dann erstmalig selbst Volksvertreter über die CSU-Landesliste und nur vier Jahre später direkt gewählt – wie danach bei jeder Wahl – mit einem großen Wählervertrauen von jeweils über 50 Prozent der Erststimmen in seinem Wahlkreis Bayreuth-Forchheim.
Vorschub bei seiner steilgeraden Karriere fürs Gemeinwohl leisteten seine kontinuierlich zunehmenden Aktivitäten und Initiativen sowie die ihm anvertraute Verantwortung, die sich schon früh um die Schicksale von Menschen aus Minderheiten und Vertreibung rankten. Von ehrenamtlichen Verpflichtungen in Jugendverbänden der Vertriebenen, u.a. als Bundesvorsitzender der Schlesischen Jugend, über den Vorsitz der Arbeitsgruppe „Vertriebene und Flüchtlinge“ der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, 15 Jahre im Innenausschuss des Deutschen Bundestages, die Position des Parlamentarischen Staatssekretärs beim Bundesminister für Finanzen von 2009 bis 2013 bis zum „Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten“ in den letzten vier Jahren seiner Amtszeit. Zudem war er lange Zeit in Gremien beschäftigt, die sich mit der Aufarbeitung der „SED-Diktatur in Deutschland“ sowie der Hinterlassenschaft der DDR-Staatssicherheitsorgane befassten.
Seine besondere Aufmerksamkeit gilt bereits im zwanzigsten Jahr den Beziehungen zu einem fernöstlichen Volk, dass immer noch unter Teilung leiden muss: Korea. Nach zahlreichen Reisen, sowohl in den Süd- als auch in den Nordteil des Landes, gehört er federführend zu deutsch-koreanischen Vereinigungen. Mit hohen Orden und Auszeichnungen beider Staaten, u.a. auch dem Bundesverdienstkreuz am Bande, sind seine Bemühungen gewürdigt worden, genauso wie sein Engagement für die deutschungarischen Beziehungen.
Für ihn hat ein bewusstes Leben mit der Vergangenheit nichts mit „ewig gestrig“ zu tun. Genauso wenig mit unbedingter Ortsgebundenheit. Heimatliebe hieße doch schlicht und urmenschlich, sich auch seiner Wurzeln bewusst zu bleiben, Geborgen- und Sicherheit in seiner gewachsenen Gefühlswelt und kulturellen Vertrautheit zu empfinden. Und gleichzeitig offen zu bleiben für andere und anderes überall. Hartmut Koschyk ist ein Mensch, der das lebt. Und es sich schon früh zur Aufgabe gemacht hat, andere Menschen zu verstehen, mitzuziehen, zu unterstützen, ihre Stimme zu sein – mit friedlichen, diplomatischen Mitteln.
Sein Verständnis von lebenswerter Heimat hat sich ihm als erdverbunden-verwurzelt, aber gleichzeitig als internationalistisch-europäisch in Hirn und Herz eingebrannt – wie ein unentfernbares Tattoo auf der Haut. Zu viele sehen sich den anonymen Kräften der Globalisierung, Digitalisierung und Automatisierung, der Migration scheinbar ohnmächtig ausgeliefert.
Dem sinkenden Vertrauen in die reale Gestaltungskraft der Politik wusste und weiß Hartmut Koschyk engagiert etwas entgegenzusetzen. Ihm ging und geht es darum, den Menschen Kontrolle über ihr Leben und das beruhigende Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und ihrer Zukunft zurückzugeben.
Menschen brauchen eine Identität, das weiß er, aus der sich Stolz, Respekt und Selbstachtung speisen. Und auch daran hält er unverbrüchlich fest: Glauben als menschliches Grundbedürfnis, ein tragendes, ökumenisches Religionsverständnis, das nicht unbedingt mit Kirche zu tun haben muss.
Sein jüngstes Buch „Heimat – Identität – Glaube“ mit dem Untertitel „Vertriebene, Aussiedler, Minderheiten im Spannungsfeld von Zeitgeschichte und Politik“ sieht er als eine Art von politisch-persönlicher Bilanz nach Jahrzehnten seiner aktiven Tätigkeit in Parlament und Regierung sowie im Verbandsbereich der Vertriebenen. Die drei Lebensmaxime im Titel seiner 463 Seiten starken Veröffentlichung seien heute in der politischen Mitte der Gesellschaft sowohl in Deutschland als auch in Europa verankert. Da spricht das „Prinzip Hoffnung“: „Es bedarf aber entsprechender Anstrengungen, dass dies so bleibt und nicht Populismus und Extremismus sich dieser Themenfelder bemächtigen.“
Schon zu spät? Nun, dieser Mann jedenfalls wird nicht aufhören, seinen Beitrag dazu zu leisten. Schließlich hat er sein Leben lang bereits bewiesen, was er mit seinem persönlichen Erfahrungshintergrund und seiner glaubensgestärkten Leidenschaft für Menschen bewegen kann.
Der Text stammt aus dem Sammelband „Deutsche und Russen über alle Grenzen hinweg: 20 Meister-Porträts“, herausgegeben von der Moskauer Deutschen Zeitung anlässlich ihres 20-jährigen Wiederbestehens.