Es ist Herbst 1992. Eine junge russlanddeutsche Familie – Nikolai Singer mit Frau Olga und dem zweijährigen Töchterchen Magdalena – landet, von Kasachstan kommend, auf dem Flughafen in Frankfurt am Main. Voller Ungewissheit sieht der Lehrer, der Musik studierte, seiner Zukunft in der neuen Heimat entgegen. Wird er hier an einer Schule der Beschäftigung als ausgebildeter Musikpädagoge nachgehen können? Leider reichen die Voraussetzungen nicht ganz. Ein zweites Unterrichtsfach müsste hinzukommen. Wo und wie also kann Nikolai Singer mit seinen speziellen Fähigkeiten für seine Familie eine neue Lebensexistenz aufbauen?

Er und seine Angehörigen finden eine Unterkunft in Waiblingen im Ortsteil Hohenacker. Ihm wird schnell bewusst, wie wichtig es von Berufs wegen ist, so schnell wie möglich Kontakt mit der ortsansässigen Bevölkerung aufzunehmen. Dies geschieht am besten über Vereine. Den Anfang machte er im Sportverein und als Sänger im katholischen Kirchenchor sowie als Dirigent des Blasorchesters. Später nutzte er die Gelegenheit, um seine Tätigkeit als Chorleiter in der neuen Heimat ausüben zu können.

Welch ein Glücksfall! Gerade zu diesem Zeitpunkt war der Musikverein Hohenacker mit einem gemischten Chor auf der Suche nach einem neuen Chorleiter. Im Ort hatte es sich herumgesprochen, dass es im Wohnheim einen ausgebildeten Chorleiter und Dirigenten gibt. Eine Delegation dieses Vereins suchte ein Gespräch mit Nikolai Singer und lud ihn zu einer Chorprobe ein. Zunächst erlebten die Chormitglieder den neuen Chorleiter etwas schüchtern und zurückhaltend, was ihn sympathisch machte. Doch bald wurde erkannt, welch ein Musiktalent hier schlummert und mit welchem Engagement und welcher Freude er den Chor leitet.

Und so hatte der gemischte Chor Hohenacker ab April 1994 einen neuen 30 Jahre jungen Chorleiter und Dirigenten aus Kasachstan, dessen Vorfahren aus Ettlingen bei Pforzheim stammten und im 19. Jahrhundert ausgewandert waren. Ein freudiges Ereignis brachte der Familie 1995 Zuwachs. Der Sohn Ronald wurde geboren. In den folgenden 20 Jahren hat Nikolai Singer weitere Chöre in den umliegenden Ortschaften Neckargröningen und Schwaikheim übernommen: zwei gemischte Chöre, einen Rock– und Popchor sowie einen Männerchor. Außerdem wurde von ihm schon 1994 eine eigene Musikschule, genannt „RAINBOW“, gegründet. Hier lehrt er Kinder und Erwachsene in den Fächern Klavier, Keyboard, Gitarre, Akkordeon, Schlagzeug und Gesang. Auch im Handharmonika-Club in Waiblingen-Neustadt unterrichtet er ein Jugendensemble.

In verschiedenen lokalen Zeitungen erschienen in diesen 20 Jahren Artikel über Konzertauftritte der oben erwähnten Chöre unter der Leitung von Nikolai Singer. Einen herausragenden Höhepunkt bildete das Jubiläumskonzert im Jahre 2001 zum 140-jährigen Bestehen des Gesang– und Turnvereins Hohenacker unter der Begleitung der Sinfonietta Waiblingen. Viele weitere Konzertauftritte bei Chorfesten in Ulm, Karlsruhe, Heilbronn und im Dom in Frankfurt/Main sind erwähnenswert, deren Initiator Nikolai Singer war. 2008 haben seine Chöre bei „International Festival of Advent and Christmas Music with Petr Eben’s Prize“ in Prag teilgenommen und sich auf den dritten Platz gesungen.

Sein Chorprogramm ist zusammengesetzt aus einem vielfältigen und umfangreichen Repertoire, angefangen von internationalen Volksliedern (auch in Fremdsprachen gesungen) über Schlager, bis hin zu anspruchsvoller Chorliteratur von Bach, Mozart, Beethoven und Händel sowie Kompositionen moderner Komponisten wie Edward Elgar und Carl Jenkins. Sogar russische Lieder werden gesungen. Seinem Männerchor gelang es, mit großer Begeisterung und temperamentvoll einen Vers des „Kosakenliedes“ in ukrainischer Sprache gesanglich vorzutragen.

Heute nach zwei Jahrzehnten sind Nikolai Singer und seine Großfamilie in der neuen Heimat Deutschland fest verankert. Seine Mutter und seine Schwestern Nina und Lydia verstärken den Chor mit ihren Stimmen. Eine gute schulische Ausbildung für die Tochter Magdalena und den Sohn Ronald war den Eltern Nikolai und Olga Singer ein wichtiges Anliegen. Die Ehefrau Olga beteiligte sich stets in hilfsbereiter Form bei schulischen Veranstaltungen. Beide Kinder haben zwischenzeitlich ihr Abitur absolviert und ein Studium sowie eine Bankausbildung begonnen. Zurückblickend auf die vergangenen 20 Jahre erweist sich der Werdegang von Nikolai Singer als ein vorbildhaftes Beispiel für die Integration einer russlanddeutschen Familie in der Heimat der Urväter. Unserem Chorleiter Nikolai Singer wünschen wir beste Gesundheit, Ausdauer und Kraft für neue Ideen und vor allem weiterhin erfolgreiche Jahre als Dirigent
und Musikpädagoge.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift der Landsmannschaft der Russlanddeutschen „Volk auf dem Weg“. Wir veröffentlichen ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

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