Am 21. September verkündete Kremlchef Wladimir Putin, 300.000 Russen für das Militär zu mobilisieren. Daraufhin verließen viele Männer und ihre Familien fluchtartig das Land. Zu einem der beliebtesten Ziele wurde das Nachbarland Kasachstan. In Almaty konnten wir nun mit einem der Betroffenen über seine Flucht, seine Beweggründe und seine Zukunftspläne sprechen.

„Als die Teilmobilisierung bekanntgegeben wurde, sagte meine Freundin sofort: Daniil, du musst weg von hier.“

Wir sitzen in einem kleinen Café im Zentrum von Almaty. Daniil spielt an seinem Glas, schaut auf sein Handy, zeigt ein Bild, ein Video, lacht, öffnet seine Jacke, schließt sie wieder, ist immer in Bewegung. Modisch-lässig, ganz in schwarz, ein Mittzwanziger, dem man genauso gut in einer Craftbeer-Bar in Berlin, einer Vernissage in London, oder eben auf den Straßen St. Petersburgs treffen könnte, wo er bis vor kurzem noch lebte.

„Ich habe meinen Militärdienst abgeleistet, war aber nie in einem Einsatz, bin kein Student, kann also eingezogen werden“, sagt Daniil. „Ich habe dann gar nicht lange überlegt. Es war klar, dass ich weg muss, raus aus Russland. Während ich meine Sachen gepackt habe, hat meine Freundin Tickets gebucht. Ich habe dann einer Bekannten geschrieben, die in Almaty wohnt. Wir kennen uns von einem Filmfestival in Berlin, sie hatte gesagt, ich solle mich bei ihr melden, wenn ich mal in Kasachstan bin.“

Eine Freundin besorgt ihm ein Einladungsschreiben über ein kasachisches Filmstudio, innerhalb eines Tages ist er abreisebereit. Fliegt mit seiner Freundin erst nach Tjumen, im Westen Sibiriens. Flug-tickets nach Kasachstan und in die grenznahen Städte kosten da schon ein Vielfaches des ursprünglichen Preises. Mit dem Taxi fährt er zu einem wenig genutzten Grenzübergang. „Auf der russischen Seite gab es überhaupt keine Probleme. Dann mussten wir mit unserem ganzen Gepäck gut einen Kilometer bis zum kasachischen Posten laufen. Wir hatten ja nicht nur Kleidung und so, sondern auch mein ganzes Kameraequipment dabei“, sagt er mit einem Lächeln.

Gut vorbereitet und vernetzt

Er stammt aus einer Künstlerfamilie, erklärt er. Sein Bruder ist Musiker, er selbst beschäftigt sich aber vor allem mit Film und Kameratechnik, hat viel in Moskau gearbeitet, sich die meisten Dinge selbst beigebracht. In Russland sei auch viel ohne Abschluss möglich gewesen, wenn man gut war in dem, was man tat. Es sei ein schönes Leben gewesen.

„Die kasachischen Grenzer haben sich sehr für meine Kamera interessiert. Die waren richtig begeistert davon, als ich ihnen erzählte, dass ich Aufnahmen für einen Film machen wolle, und haben uns gleich durchgewunken. In gut einer Stunde waren wir durch.“ Ihm sei bewusst, dass sie damit Glück gehabt haben. Die Ausreisenden aus Russland verbringen manchmal bis zu drei Tagen am Grenzübergang. „Da könnte man schon fast einen Dokumentarfilm drehen, es hat sich ein eigener Mikrokosmos entwickelt, es werden völlig überteuerte Lebensmittel verkauft, sogar Kinder geboren.“

Nach einer zweitägigen Reise über Pawlodar und Astana kommen sie nach Almaty. Teils haben sie Glück und können noch ein Ticket ergattern, teils fahren sie bei Privatpersonen im Auto mit. „Dass alles so reibungslos ablief, liegt auch daran, dass wir uns gut vorbereitet hatten; wir hatten alle notwendigen Dokumente und konnten uns auf die Informationen derer stützen, die schon vor uns ausgereist waren.“ Diese Vernetzung unter den Geflüchteten kommt ihnen auch in Kasachstan zugute: es gibt Telegramgruppen– und kanäle, in denen alle wichtigen Informationen ausgetauscht werden.

Gefühl der Freiheit in Almaty

Er fühle sich wohl in Kasachstan: „Ich bin, als es noch größere Proteste in Russland gab, zu einer Demo gefahren. Das war der lächerlichste Protest meines Lebens. Ich bin einfach aus der Metro gekommen, da haben sie mich direkt gepackt und mitgenommen. Solche Dinge passieren in Russland. Es wird gezielt Panik verbreitet. Es soll Leute geben, die direkt bei den Protesten ihren Einzugsbescheid bekommen haben. Danach habe ich jeden Tag aufs Neue überlegt: Muss ich heute wirklich die Wohnung verlassen, oder kann ich vielleicht auch einfach zuhause bleiben?“

In Almaty fühle er sich nun viel freier und hebt im gleichen Atemzug weitere Vorzüge der Stadt hervor: „Anfangs kam es mir hier wie Urlaub vor. Ich liebe Petersburg, aber es ist eine sehr windige und kalte Stadt. Das Klima hier ist deutlich angenehmer. Außerdem ist vieles deutlich günstiger: Selbst wenn ich auf dem Basar doppelt so viel bezahle wie die Einheimischen, ist das trotzdem deutlich weniger als in Zuhause.“

Viele Russen werden zurückkehren

Doch gleichzeitig relativiert Daniil: Vielen seiner Landsleute gehe es nicht so gut. „Die hohen Mietpreise, die vollen Hotels, das ist natürlich ein ziemlicher Stress, wenn man nicht weiß, wo man schlafen soll, wie es weitergeht. Und dann sehen sie in den sozialen Medien, dass das Leben in Russland weitergeht, ihre Freunde erzählen am Telefon, dass sich eigentlich kaum etwas verändert habe.“ Dazu komme der finanzielle Druck; nicht jeder könne einfach standortunabhängig online weiterarbeiten. In einer ganz neuen Umgebung, ohne feste Wohnung ein neues Leben aufzubauen, sei auch unter normalen Bedingungen nicht einfach.

Er rechnet deshalb damit, dass viele Russen bald zurückkehren werden. „Der massenhafte Exodus, ausgelöst durch die Teilmobilisierung, war vielfach eine Panikreaktion. Aber Russland ist ja ein riesiges Land, dreihunderttausend Männer, das ist im Verhältnis gar nicht so viel. Da sitzt du dann eben in deinem Hostel und beginnst, das alles zu hinterfragen: Ob es überhaupt nötig war, auszureisen. Wofür man sich den ganzen Stress macht. Bin ich überhaupt direkt betroffen? Aber nach meiner Abreise fand sich in meinem Briefkasten tatsächlich der Einberufungsbescheid. Ich kann also nicht mehr zurück.“

Generationenkonflikte in der Familie

Dennoch betrachtet die ältere Generation seiner Familie seine Entscheidung mit gemischten Gefühlen. Vor dem Hintergrund der Erinnerung an die chaotischen 90er Jahre, gilt Putin vielen, die diese Zeit miterlebt haben, als Garant von Stabilität und sozialem Aufstieg. Insbesondere sein älterer Bruder und sein Vater haben eher Verständnis für die aktuelle Regierungspolitik. Seine Mutter hingegen ist froh, dass Daniil nun in Sicherheit ist, auch wenn sie nicht weiß, wann sie ihn wiedersehen wird.

Die Teilmobilisierung wirkt sich direkt auf die Lebensentwürfe russischer Familien aus, wie auch am Beispiel seiner Schwester zu sehen ist. Obwohl sie einen gemeinsamen Sohn haben, zerbrach die Beziehung zu ihrem Lebensgefährten beinahe an seiner Entscheidung, nach Georgien zu fliehen. Sie blieb in Russland, beschloss dann aber, ihm nachzufolgen, um ihn zu heiraten. Auch das Leben seines jüngeren Bruders änderte sich schlagartig, als der Kontrabassist dafür ausgewählt wurde, in einem Ensemble vor Kindern im Donbass zu spielen. Statt Georgsbänder in Z-Form aufzuhängen, ließ er seinen Kontrabass zurück und arbeitet nun in den USA auf einer Baustelle. „Niemand weiß so ganz, wie er das Visum gekriegt hat. Dass er dort seiner Berufung nicht mehr nachgehen kann, hat ihn in eine tiefe Krise gestürzt. Aber er versucht, in Amerika ein ganz normales Leben zu führen.“

Nicht die erste Abwanderungswelle

Auch Daniil ist es wichtig, sich mit der lokalen Kultur vertraut zu machen, in Almaty anzukommen, sich einzuleben. Er will hier arbeiten und sich ein neues Netzwerk aufbauen. Dabei steht er teilweise vor unbekannten Problemen. „Wenn du in Moskau oder Petersburg nachts um drei irgendwo anrufst, um ein bestimmtes Teil vom Kamerazubehör zu bekommen, dann ist das am nächsten Tag da. Hier muss man teilweise tagelang warten, oder man findet das Gesuchte überhaupt nicht.“

Moskau sei eben ein Zentrum für Videoproduzenten gewesen, auch weil es günstiger als in Europa oder den USA gewesen sei, dort zu drehen. Viele Kreative, die sich damals in Russland niederließen, hätten das Land seit dem 24. Februar wieder verlassen. Eine solche Abwanderungswelle von Kulturschaffenden und Intelligenzija in vergleichbarem Ausmaß sei in der russischen Geschichte aber keineswegs ein Novum: „Wenn man sich die Geschichte des Moskauer Theaters anschaut, bemerkt man, dass in den ersten zwanzig Jahren nach der Oktoberrevolution nichts Nennenswertes hervorgebracht wurde, woran man sich heute noch erinnert. Auch heute werden wieder politische Beschränkungen eingeführt, Kooperationen aufgekündigt, Verbindungen zu Ländern wie insbesondere der Ukraine zerstört. Das ist ein schwerer Schlag für das kulturelle Leben in Russland.“

Er habe sich zum Teil damit abgefunden, meint Daniil, allerdings dürfe man deshalb nicht aufgeben. „Mir hat gestern jemand etwas sehr Wichtiges gesagt: Wir haben als Künstler eine Art eigene Nationalität. Bei unserer Arbeit geht es nicht darum, woher wir kommen – egal ob aus Russland, oder aus Kasachstan, wir arbeiten einfach zusammen.“

Joseph Karl-Friedrich Brömel und Vincent Ade

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