Der Moskauer Künstler Hassan Bakhaev holt Opfer des Stalinismus in die Gegenwart. Seine Fotomontagen erreichen weltweit Tausende von Menschen und fördern das Erinnern an eine Zeit, die zunehmend vergessen wird.
Tamara Litsinskaja ist gerade auf dem Weg zur Universität. Es ist ein eiskalter Februartag im Jahr 1937. Der schneidende Wind treibt die Passanten auf Moskaus Straßen zur Eile an. Er drückt auch Tamara gegen Wände, schlägt ihr ins Gesicht. Als die 27-Jährige gerade die vereisten Treppen zur RabFak (Rabotschij Fakultet, zu Deutsch: „Arbeiterfakultät“, Anm. d. Red.) hochsteigen will, fühlt sie eine schwere Hand auf ihrer rechten Schulter. Sie dreht sich um und blickt in die ausdruckslosen Augen eines jungen Mannes.
Eine Arbeit gegen das Vergessen
Dem Moskauer Künstler Hassan Bakhaev ging Tamaras Gesicht nicht mehr aus dem Kopf. Es begegnete ihm auf www.bessmertnybarak.ru. Einer Webseite, die Bildmaterial und Informationen zu Menschen sammelt, die Opfer des stalinistischen Terrors wurden. „Ich musste immer wieder an Tamaras sinnlosen Tod denken“, sagt der russische Künstler. „Ich wollte etwas tun, damit ihr Schicksal und das Millionen weiterer Opfer auch andere berührt“, sagt er. So versetzte er die junge Frau in das Jahr 2017 und montierte ihr Portrait aus den Untersuchungsakten in das Bild einer jungen Frau von heute.
„Der Übergang zwischen dem Schwarzweißen der 1930er Jahre und dem Farbigen der Jetztzeit symbolisiert eine Epoche, die in der Erinnerung vieler Menschen verschwunden ist“, sagt der Künstler. Er möchte gegen das Vergessen arbeiten. Aus Respekt vor den Toten und aus Angst vor der Zukunft. „Die Meinungsfreiheit in unserem Land wird stark eingeschränkt“, sagt Bakhaev. Das beunruhige ihn sehr. Deshalb arbeitet er mit der Menschenrechtsorganisation Memorial zusammen, die sich unter anderem für das Erinnern an die Verbrechen der stalinistischen Ära einsetzt.
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Erinnerungen wieder aufleben lassen
Bakhaev nutzt Bildmaterial der Nonprofitorganisation für seine Bilder. „Es sind vor allem junge und schöne Menschen, die unsere Aufmerksamkeit und unser Mitleid erwecken“, sagt der Moskauer. „Tamara sieht aus wie eine junge Frau, der du heute in einer Werbeanzeige oder einem Café begegnen würdest. Sie könnte deine Freundin sein, deine Schwester, deine Tochter. Diese Nähe zu uns soll berühren. Denn ihr Tod wäre heute genauso sinnlos und ungerecht wie damals.“
Bakhaevs Fotomontagen auf seinem persönlichen Facebook-Profil erreichten im Herbst über Nacht Tausende von Menschen. Die meisten reagierten sehr positiv und ermutigten ihn, weiterzumachen, so dass Bakhaev nach wenigen Tagen eine eigene Projektseite auf Facebook gründete. Hier postet er regelmäßig neue Fotomontagen mit Informationen zu den jeweiligen Opfern und seinen eigenen Gedanken zu dieser Epoche des Schreckens. Zunehmend beauftragen auch Privatpersonen Bakhaev, die eine Montage mit ihren Angehörigen wünschen.
„Unter Stalin sind Millionen von Menschen verschwunden. Ihre Angehörigen wussten oft Jahrzehnte lang nicht, ob ihre Liebsten noch leben oder unter welchen Umständen sie starben“, sagt Bakhaev. „Ich finde es schön, mit meiner Arbeit dazu beitragen zu können, dass auch nach 80 Jahren an diese Menschen gedacht wird.“
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198 Tage
Außerdem lerne er durch das Projekt interessante Menschen kennen. Wie den Musiker Steven Wall aus Dublin. Kurze Zeit nachdem Bakhaev seine Fotomontage von Tamara auf Facebook veröffentlicht hatte, erhielt er eine Nachricht von ihm. Er hatte Tamara einige Jahre zuvor in dem Buch „Ordinary Citizens: The Victims of Stalin“ von David King entdeckt und widmete ihr nahezu zeitgleich mit Bahkaevs Fotomontage ein Liebeslied. Beide Künstler waren erstaunt darüber, wie ähnlich die starke Wirkung von Tamara auf sie war und auf welche Weise sie beide inspirierte.
198 Tage halten Stalins NKWD-Leute Tamara in Haft. Unterziehen sie tagelangen Verhören, bei denen sie manchmal in Ohnmacht fällt und durch Schläge erwacht. Sie soll endlich gestehen, einer anti-sowjetischen Terrororganisation anzugehören und das Vaterland verraten zu haben. Doch Tamara hat nichts zu gestehen. Sie ist doch nur eine einfache Frau, war nie politisch aktiv. Am 25. August 1937 fällen sie das Urteil über sie. Es wird am selben Tag vollstreckt. Als sie aus ihrer Zelle geholt wird, freut sich Tamara. Sie wird nach monatelanger Einzelhaft in der Dunkelheit ein wenig blauen Himmel sehen. Tief atmet sie die heiße Augustluft ein. Dann treffen sie Kugeln. In die Brust. Den Kopf. Und ihr Leben hört auf, ohne dass es richtig begonnen hatte.