Alljährlich verzweifeln deutsche Steuerzahler über ihrer Steuererklärung. In Kasachstan sind die Menschen dank Flat Tax von diesem Übel befreit. Doch ist dieses System wirklich ein Modell für die Bundesrepublik?

Jeder Bürger sollte seine Einkommenssteuer auf einem Bierdeckel ausrechnen können. Zehn Jahre ist es her, dass der CDU-Politiker Friedrich Merz diesen Vorschlag zur Reform des deutschen Steuerrechts machte. Die Initiative blieb erfolglos. Stattdessen sei das Steuersystem heute „noch unübersichtlicher“, wie Unionsabgeordnete Anfang des Jahres in einem Brief an die Parteispitze kritisierten. „Allein in den vergangenen vier Jahren wurden rund 500 Bestimmungen im Steuerrecht geändert“, schreibt die Gruppe. Ihre Forderung lautet, den Bierdeckel-Vorschlag für die Bundestagswahl im kommenden Herbst wieder aufzugreifen: „Ein Steuerzahler muss in der Lage sein, seine Steuererklärung auszufüllen und zu verstehen.“ Tatsächlich schafft es in Deutschland kaum ein Arbeitnehmer, diese ohne Hilfe eines Steuerberaters einzureichen. Das deutsche Steuerrecht gilt als das komplizierteste der Welt. Unzählige Ausnahmeregelungen und ständige Reformen führen dazu, dass selbst Finanzbeamte den Paragraphendschungel oft nicht mehr durchschauen können. Das geht so weit, dass „die gesetzmäßige Besteuerung nicht gewährleistet ist“, wie der Präsident des Bundesrechnungshofes Dieter Engels sagte.

Doch nicht nur die Intransparenz des Steuerrechts wird beanstandet. Ein weiterer Hauptkritikpunkt lautet, dass Gehälter zu hoch besteuert werden. Eine Studie der Organisation für Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) aus dem Jahr 2010 bescheinigt der Bundesrepublik im internationalen Vergleich die dritthöchsten Abgaben. So zieht das Finanzamt einem alleinstehenden Gutverdiener mit einem Jahresgehalt von 67.000 Euro gut die Hälfte seines Lohnes ab. Selbst eine alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern und 27.000 Euro im Jahr muss noch über ein Drittel ihres Lohnes abgeben. Dies ergibt die höchste Abgabenbelastung für Geringverdiener im internationalen Vergleich. Professor Lorenz Jarass, Steuerexperte der FH Wiesbaden, polemisiert dazu in der Fernsehsendung „Report Mainz“: „Es gibt ein sehr berechtigtes Gefühl bei den Arbeitnehmern, dass sie ausgeplündert werden. Lohnerhöhungen werden mit zwei Drittel belastet, und die großen Einkommensbezieher bezahlen überhaupt keine Steuer mehr.“ Jarass deutet damit die 30 bis gar 100 Milliarden Euro an, die laut Schätzungen dem Finanzamt jährlich durch Steuerhinterziehung entgehen.
Unter anderem um dies zu vermeiden, wird in Kasachstan ein anderes Steuersystem angewandt. Seit 2007 gibt es eine einheitliche Einkommenssteuer von zehn Prozent. Die Regierung versprach sich von der sogenannten „Flat Tax“ zunehmende ausländische Investitionen und eine ausgeprägtere Steuermoral der Bürger. Dadurch sollten die Einnahmen steigen. So, wie es in Russland nach Einführung einer solchen Flat Tax geschehen ist. Doch ist umstritten, ob die Steuer dafür verantwortlich war. Der Internationale Währungsfonds (IWF) gibt an, dass man die höheren Steuereinnahmen in Russland ebenso auf strengere Steuerkontrollen und steigende Einnahmen aus der Rohstoffförderung zurückführen kann. Für Kasachstan fand der Wirtschaftswissenschaftler Alexander Waschtschilko heraus, dass die niedrige Einheitssteuer tatsächlich zu weniger Steuerhinterziehung geführt hat. Einen nennenswerten Einfluss der Flat Tax auf die Höhe der Steuereinnahmen kann jedoch auch er nicht erkennen.

Eine andere Frage ist zudem, ob ein Steuersatz, der sowohl für die Krankenschwester als auch den Chefarzt gilt, gerecht ist. In einem Land wie Kasachstan, in dem enorm hohe Einkommensunterschiede existieren, drängt sich diese Frage besonders auf. „Natürlich ist es nicht gerecht, dass ein geringes Einkommen genauso wie ein hohes besteuert wird“, sagt eine Steuerberaterin aus Almaty dazu. Trotz allem zieht sie dieses System dem deutschen vor: „Dafür sind die Steuern niedrig und leicht zu berechnen.“

Auch in der Bundesrepublik hat die Flat Tax Freunde. So schrieb der FDP-Politiker Rainer Brüderle in der Financial Times Deutschland, ein einheitlicher Steuersatz sei „einfach und transparent“ und würde den Verwaltungsaufwand minimieren. Außerdem würden „nicht Millionen von Arbeitsstunden, die Bürger, Finanzbeamte und Steuerberater heute mit der Bearbeitung von Papieren verbringen, verschwendet”. Tatsächlich muss in Kasachstan ein Angestellter keine Steuererklärung abgeben – eine Vorstellung, bei der der paragraphengeplagte deutsche Steuerzahler ins Staunen gerät.

Kann Gerechtigkeit einfach sein?

Es gibt jedoch einen Grund dafür, weswegen die Deutschen so viel Aufwand in ihre Steuererklärung investieren müssen. In der Bundesrepublik wird versucht, durch Sonderregelungen und proportionale Besteuerung zumindest im Prinzip Gerechtigkeit herzustellen. Doch bewirkt dies durch die dabei entstehende Unübersichtlichkeit möglicherweise das Gegenteil. Denn wer viel Geld hat, kann Steuerberater damit beauftragen, Schlupflöcher im System zu finden. „Die Menschen empfinden nicht mehr, dass Gleichheit herrscht, dass jeder das Einkommen, das er erzielt hat, voll besteuern muss. Und dieses Gefühl ist berechtigt“, sagt der Heidelberger Steuerrechtler Paul Kirchhof im deutschen Fernsehsender ARD. Er selbst entwickelte im Wahlkampf 2005 für die CDU ein Steuermodell mit einer Flat Tax von 25 Prozent.

Dieses wurde jedoch von vielen als ungerecht kritisiert. Der BWL-Professer Franz Wagner beanstandete im Münchner Merkur: „Ein gerechtes Steuersystem kann nicht einfach sein. Wenn jemand mit dem Auto weit in die Arbeit fahren muss und das nicht absetzen darf, wird er benachteiligt.“ Beispielrechnungen belegen außerdem, dass der Abbau steuerlicher Subventionen bei der Einführung einer Flat Tax kleine Gehälter noch stärker belasten würde. Wer hingegen viel verdient, müsste weniger bezahlen. Die SPD rechnete in einer Pressemitteilung vor: „Die Oberschwester im Krankenhaus, die einen Teil ihres Einkommens aus steuerfreien Zuschlägen bezieht, hätte 1.000 Euro im Jahr verloren, der Manager mit Kleinfamilie und 200.000 Euro im Jahr hätte 3.500 Euro gewonnen.“ Zudem gelten die bisher gemachten Reformentwürfe als nicht bezahlbar, weswegen sie von der Union selbst wieder verworfen wurden.

Das in Kasachstan angewandte Modell einer Flat Tax scheint demnach keine Option für Deutschland zu sein. Ein Kompromiss, der das System sowohl einfacher als auch gerechter machen würde, liegt somit in weiter Ferne. Keine der Parteien hat für die kommende Bundestagswahl Vorschläge für eine umfassende Reform des Steuerrechts gemacht. Weil eine Neugestaltung neben Gewinnern vor allem auch Verlierer hervorbringen würde, findet sich im Moment niemand, der diese Herkulesaufgabe anpacken würde. Schließlich will keine Partei in Wahlkampfzeiten potentielle Wähler vergraulen. Zumal noch nicht geklärt wurde, was die Heerscharen von arbeitslosen Steuerberatern, die in einem vereinfachten Steuersystem überflüssig wären, tun sollten.

Ob der Staat Umschulungen zur Pflegekraft oder zum Erzieher, die ja händeringend gesucht werden, mit Steuervergünstigungen fördern würde, ist nicht bekannt.

Von Igor Steinle

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