Der 1969 in Almaty geborene Pianist Temirschan Jerschanow verbindet in seinen Interpretationen technisches Können und Kreativität auf einzigartige Weise. Ein Porträt des international bekannten Künstlers anlässlich seiner Auftritte in Berlin und Leipzig
In der Welt des Klavierspiels hat sich in den letzten Jahrzehnten viel verändert. Bloße Technik und der Hang zu einer die Werke immer mehr verfremdenden Interpretation haben im internationalen Kunstbetrieb Einzug erhalten. Ganz nach oben kommen vielfach nur die, die ihre Karriere systematisch „aufgebaut“ haben, wie es häufig heißt. Viele Musikfreunde ahnen nicht, dass da oft Begabungen ungeachtet ihres wirklichen Entwicklungsstandes mit Mitteln des Marketings nach oben gepuscht werden, um nicht selten schon bein kleinen Mißerfolgen jegliche Unterstützung zu verlieren und ins Bodenlose zu fallen. Viele Talente halten dem in der Musikszene hohen Erwartungsdruck nicht stand und gehen vorzeitig unter.
Der 1969 in Almaty geborene Pianist Temirschan Jerschanow ist da ein ganz anderer Typ. Er hat stets nur auf sein Können gesetzt und nichts unnötig forciert. Vor allem war ihm wichtig, sein Repertoire nicht überhastet, sondern verantwortungsbewusst mit dem nötigen Tiefgang aufzubauen. Dabei stellen für ihn Traditionen einen hohen Wert dar – aus Achtung vor dem jeweiligen Schöpfer.
Der bescheiden wirkende Jerschanow hat seinen Weg nach oben mit kontinuierlichen Spitzenleistungen gemacht. Er sieht es als seine Aufgabe an, die Aussage seines Werkes erfassbar zu machen, um so den Zuhörern Türen zum tieferen Verständnis der Musik zu öffnen. Vollendete Technik dient dem Pianisten dafür nur als unerlässliches Fundament. Voll und ganz stimmt er mit dem Gedanken von Moscheles, einem der besten Pianisten des 19. Jahrhunderts, überein, dass sich das Mechanische beim Spielen nicht vordrängen darf. In diesem Sinne ist Jerschanows Virtuosität, in der Gestaltungsvermögen und Technik ideal ineinander verschmelzen, ein Selbstverständnis, nie aber Selbstzweck. Dies ist das Credo des jungen Künstlers.
Wer auf den Werdegang von Temirschan Jerschanow schaut, findet den Ausspruch des Komponisten Adam Hiller bestätigt, wonach sich keine Begabung früher zeigt und entwickelt als die musikalische. Schon mit drei Jahren tanzte Jerschanow begeistert zu schöner Musik. Mit sieben Jahren begann er auf dem im Elternhaus stehenden Piano zu spielen. Eine seiner fünf Schwestern entdeckte sein außergewöhnliches Talent und machte klar, dass es nicht verborgen bleiben dürfe, sondern mit allen zur Verfügung stehenden öffentlichen Mitteln gefördert werden müsse. So war es selbstverständlich, dass er die Musikschule seiner Heimatstadt besuchte. Als Hochbegabter durfte er bereits mit zwölf Jahren auf Empfehlung seiner Lehrer nach Moskau zur Zentralen Musikschule wechseln, wo die künftige Musikelite des Landes einem erstklassigen Lehrerkörper anvertraut war. Nachdem er mit 20 Jahren diese Talentschmiede durchlaufen hatte, konnte er an das weltberühmte Tschaikowski-Konservatorium gehen. Dort gelangte er in die Hände von Prof. Michail Woskressenski, der für viele Kenner bis heute eine der ersten Klavierkapazitäten in Russland ist. Durch ihn, dessen Assistent er später war, wurde er auch auf die Karriere als Solist vorbereitet. Der international bekannte Pädagoge Wascha Tschatschawa unterrichtete ihn in Kammermusik und Liedgestaltung.
Als singuläre Begabung wurde Temirschan Jerschanow bald zu internationalen Wettbewerben zugelassen. Bereits 1992, mit 23 Jahren, wurde er Preisträger im Internationalen Wettbewerb vin Senigallia in Italien. Ein Jahr später gewann er den 1. Preis im Fach Klavier beim hoch angesehenen Robert-Schumann-Wettbewerb in Zwickau. Im Anschluss daran begann die internationale Karriere des Pianisten mit Auftritten an ersten Stätten in Deutschland, Frankreich, England, Italien, den USA, der Schweiz und natürlich in Russland, wo er in der berühmten St. Petersburger Philharmonie und in Moskau im nicht weniger bekannten Tschaikowski-Saal spielte.
In seinem Land ist er inzwischen praktisch mit allen Orchestern und Dirigenten aufgetreten, die Rang und Namen haben. Besonders schätzen gelernt hat er den überragenden Dirigenten Wladimir Fedossejew. Auch in Deutschland und den USA ist er von bekannten Orchestern als Solist verpflichtet worden. Zwischen seinen erfolgreichen Auftritten fand er noch Zeit, 1998 als bester Liedbegleiter beim Tschiakowski-Wettbewerb in Moskau den 1. Preis zu erringen und 1999 in St. Petersburg den Jelena-Obraszowa-Wettbewerb als Bester abzuschließen. Als Klavierbegleiter fanden seine Auftritte zusammen mit dem Countertenor Eric Salim-Merüyet große Beachtung.
Temirschan Jerschanow verfügt über ein breites Repertoire an Solostücken und Konzerten. Aufsehen erregen immer wieder sein ausgeprägtes Stilgefühl, seine überwältigende Musikalität und sein bis ins feinste Detail ausgefeiltes Spiel. Zu seinen Lieblingskomponisten gehört ohne Frage Robert Schumann. In der Presse wurde ihm bescheinigt, dass er ihn im Sinne des Werkgedankens kongenial zu spielen versteht. Fasziniert zeigt sich Jerschanow immer wieder aufs Neue von der unerschöpflichen Bandbreite und Vielfalt der Werke Scarlattis. Eine besondere Affinität hat er auch zu Prokofjew, dessen unmittelbare Inspiriertheit ihn zu mitreißendem Spiel animiert. Gern lotet er auch mit seinem Spiel die gleißende Farbskala der Werke Skrjabins aus. Verbunden fühlt sich Jerschanow auch in besonderer Weise Mozarts allumfassenden Klavierschöpfungen, die er einfühlsam wiederzugeben weiß. Und natürlich gehört seine Liebe nicht minder den Werken Tschaikowskis und Chopins. Auf die Frage, wie der sich auf ein Konzert vorbereitet, antwortet er: „Üben, üben, üben.“
Seit 2002 lebt der Künstler, von dem inzwischen in Russland eine CD mit Werken von Robert Schumann erscheinen ist, in den USA. Von hier aus will er seine Weltkarriere voranbringen. Hier hat er auch hohe Anerkennung für seine Mitwirkung als Jurymitglied beim US-Open-Wettbewerb gefunden. Nun ist er dabei, sich wieder stärker in Europa zu engagieren. In Deutschland findet er große Unterstützung durch die russische Sängerin Kapitolina Stengel, die einst im Opernleben der DDR als Sopranistin reüssierte. Sie erkannte schnell sein Talent und sorgte für Auftritte des Künstlers in Deutschland, wohin er nun mit Soloauftritten im Konzerthaus Berlin und im Gewandhaus Leipzig im vergangenen Jahr zurückkehrte. Noch ist er ein Geheimtip, den Musikfreunde nicht versäumen sollten.