Der Terminus Zivilgesellschaft wird auch in Kasachstan verwendet. Von Seiten der Regierung geschieht dies jedoch, den Kern des Begriffes wenig treffend, meist mit negativem Unterton – obwohl zivilgesellschaftliche Strukturen einen positiven Wandel im Land flankieren könnten.
Foto: Anna Wolf und Gunter Deuber
Der Terminus Zivilgesellschaft wird auch in Kasachstan verwendet. Von Seiten der Regierung geschieht dies jedoch, den Kern des Begriffes wenig treffend, meist mit negativem Unterton – obwohl zivilgesellschaftliche Strukturen einen positiven Wandel im Land flankieren könnten.
„Vom Volke soll alle staatliche Macht ausgehen.“ Dies ist keine verstaubte Losung einer vergangenen Revolution oder die plakative Forderung irgendeiner NGO. Es ist der Wortlaut des Artikels 3 der Verfassung Kasachstans. Der Verfassungstext spricht in der Präambel gar mit Pathos die Idee einer pluralistischen Zivilgesellschaft an. Damit bedient er sich eines dem Ursprung nach apolitischen plus konservativen Begriffs kollektiver Identität, der sich großer Beliebtheit erfreut.
Der Begriff Zivilgesellschaft besagt eigentlich nur, dass eine freie Gesellschaft auch auf private, authentische, ethische oder politische Wertüberzeugungen und nicht nur auf die Akzeptanz abstrakter staatlich vorgegebener Ziele und institutionalisierter dogmatischer Ideale zurückgreifen muss. Die Idee der Zivilgesellschaft ist damit nicht per se gegen den Staat gerichtet, sondern soll eine gesellschaftliche Ordnung stützen. Doch für die Ausbildung von eigenen Wertüberzeugungen und ein Leben in zivilgesellschaftlicher Authentizität bedarf es Freiraumes und von Betätigungsmöglichkeiten.
Konservativer Begriff mit revolutionärer Interpretation
Durch die Dissidentenbewegung Mittelosteuropas und des von ihr inspirierten friedlichen Wandels, basierend auf der Idee der Zivilgesellschaft, erscheint der eigentlich konservative Begriff heute revolutionär angehaucht. In Kasachstan wird er gar überspitzt umstürzlerisch gedeutet. Bereits erfolgte Gesetztesänderungen und jüngste Ankündigungen des Präsidenten Nursultan Nasarbajew, Aktivitäten der Zivilgesellschaft strengstens zu überwachen, laufen der Grundidee einer Zivilgesellschaft – damit eigentlich auch der Landesverfassung – zuwider.
Denn Ausdruck der sogenannten Zivilgesellschaft sind gerade nicht institutionalisierte und strikt regulierte Politk- und Organisationsformen. Das Entstehen einer Zivilgesellschaft ist eng mit der Entwicklung von sogenannten Nichtregierungsorganisationen (NGOs) verbunden. NGOs treten für gesellschaftspolitische Belange ein, die entweder vom Staat vernachlässigt oder gar ignoriert werden. In den westlichen Staaten hat sich eine Vielzahl von professionell arbeitenden NGOs etabliert, die heutzutage auch von offizieller Seite wegen ihrer Expertise konsultiert werden. Die Ansicht, dass NGOs als fachkundige und kooperative Partner für Regierungsstellen dienen können, scheint in Zentralasien kaum vorzuherrschen.
Kasachstan: Schwache Zivilgesellschaft auf nationaler Ebene
Trotz Versuchen westlicher Regierungen und Organisationen, eine Zivilgesellschaft durch die Förderung von NGOs in Kasachstan zu unterstützen: Bisher zeigte sich wenig Erfolg. Die NGO-Landschaft in Kasachstan bleibt nach wie vor fragmentiert und ohne nennenswerte Unterstützung und Mitgliedschaft seitens der Bevölkerung. Damit ist der zivilgesellschaftliche Sektor in Kasachstan, zumindest auf nationaler Ebene, schwach und stellt mit seinen politischen Forderungen an die Machthaber keine ernsthafte Herausforderung dar. Dennoch – vielleicht auch gerade deswegen – lässt die Regierung der bisher kaum entwickelten Zivilgesellschaft immer weniger Freiraum. So sprach Nasarbajew am 12. September über negative Einflüsse in- und ausländischer NGOs im Lande. Er erklärte, ihre Aktivitäten in Zukunft und im Hinblick auf die Präsidentenwahl im Dezember zu regulieren und zu überwachen.
Besonders NGOs mit Verbindungen ins Ausland werden von der Regierung mit Argusaugen beobachtet und mehr geduldet als willkommen geheißen. Dies obwohl sie oft Hilfeleistungen für Staat und Gesellschaft anbieten, für die die Regierung keine Mittel aufbringen will. Die Aktivitäten ausländischer NGOs werden vielmehr als verdeckte Einmischung in die inneren Angelegenheiten Kasachstans gedeutet. Der Ansatz westlicher NGOs, durch eine Förderung zivilgesellschaftlicher Strukturen Stabilität in der zentralasiatischen Region zu sichern, wird gar als Bedrohung dargestellt.
Aus Furcht vor eigenständigen und eventuell durchaus kritischen Organisationsformen der Zivilgesellschaft dürfen in Kasachstan Regierung und Parlament entscheiden, welche NGO gut und förderungswürdig ist und welche nicht. Am liebsten gibt man von offizieller Seite abstrakte Ideale vor, der Präsident spricht vom Volkswillen, und die Zivilgesellschaft wird als unliebsamer Herausforderer betrachtet. Die Verfassungspraxis in Kasachstan weicht damit von der Intention ihrer Präambel ab. Dies sollte zum Nachdenken anregen. Zumal es aus kasachischer Perspektive etwas Bemerkenswertes am Wandel in Mittelosteuropa gibt, dem die Idee der Zivilgesellschaft Pate stand: Hier gelang ohne etablierte republikanisch-demokratische Institutionen und radikalen Bruch mit der Vergangenheit ein Übergang zu einer zunehmend offenen demokratischen Gesellschaft. Dies kann als Rückkehr zur „Normalität“ mit zivilgesellschaftlicher Basis und Freiraum zur freien Ausbildung politischer und ethischer Werte interpretiert werden. Eine zivilgesellschaftliche Normalität, die je mehr der kasachische Staat die Zivilgesellschaft als Gegner betrachtet, umso weiter entfernt erscheint.
30/09/05