„Das Welthandelssystem gleicht einer Spaghettischüssel”, so der Direktor der Welthandelsorganisation Pascal Lamy Mitte des Jahres. Das in laxen Worten treffend beschriebene Chaos belastet die Ministerkonferenz zu Jahresende in Hongkong. Ein Agrar-Kompromiss ist nicht in Sicht – damit ist ein baldiger WTO-Beitritt Russlands und gemäß der derzeitigen Strategie auch Kasachstans fraglich.

Die Welthandelsorganisation (WTO) hat sich zum Ziel gesetzt, Märkte zu öffnen und den Welthandel durch Transparenz und Fairness zu fördern. Wohlfahrtsgewinne durch freie internationale Wirtschaftsbeziehungen sollen realisiert werden. Mittel zum Zweck sind möglichst niedrige und nachvollziehbare Zollsätze. Dem Abbau von Zollschranken widersetzen sich derzeit jedoch die 148 WTO-Mitgliedsstaaten. Sie bilden regionale Wirtschaftsblöcke und Freihandelszonen, die sich diskriminierend abschotten und teils gar handelspolitisch bekriegen – Paradebeispiele sind die Europäische Union (EU) und die Nordamerikanische Freihandelszone (NAFTA). Rasant ansteigend ist auch die Zahl bilateraler Handelsabkommen außerhalb des WTO-Regelwerks, die andere Nationen diskriminieren. Das WTO-Regelwerk verliert an Bedeutung für die Weltmärkte. Diese zunehmende Unübersichtlichkeit, bedingt durch Neoprotektionismus, begründet den kritischen Vergleich des WTO-Direktors in anschaulicher Manier.

Protektionistische Spielwiese Agrarsektor

Eine besondere Spielwiese des Neoprotektionismus ist der Agrarsektor. Industriestaaten verwehren Transformations- und Entwicklungsländern hier fairen Marktzugang. Blockiert wird der Marktzugang durch Zölle, handelsverzerrende Subventionen oder ausgetüftelte Produktstandards. Die EU will ihre Subventionszahlungen und Agrarzölle nur langsam senken. Vertreter der Entwicklungsländer, der USA und des Asien-Pazifik-Forums kritisieren die EU deswegen. Doch schotten diese Länder genauso einzelne Märkte ab.

Vor allem Schwellenländer schließen ihre Grenzen gegenüber Industriegüterimporten ab, und im Dienstleistungssektor nehmen protektionistische Tendenzen ebenso zu. Zündstoff für handelspolitische Konflikte gibt es genug, und seit der Welthandelsrunde 2001 in Doha feilschen die WTO-Mitglieder an einer Einigung über gegenseitige Zollsenkungen und weitere Handelsliberalisierung. Fortschritte sind seit vier Jahren kaum erkennbar. Die Gespräche liegen weit hinter dem Zeitplan. Und drei Wochen vor der nächsten jährlichen Ministerkonferenz vom 13. bis 18. Dezember in Hongkong haben sich die Fronten gar verhärtet. Beobachter der Verhandlungen rechnen nicht mehr mit einer Einigung vor oder in Hongkong. Peter Mandelson, EU-Handelskommissar und Unterhändler, warnte gar vor einem WTO-Debakel.
Die Streitigkeiten, die sich derzeit auf den Agrarsektor versteifen, untergraben nicht nur die Glaubwürdigkeit der Institution WTO, sondern betreffen ebenso derzeitige Beitrittskandidaten, wie Russland und Kasachstan, die beide bis Ende 2005 ihre Beitrittsgespräche abschließen wollten.

„Flexibilität an den Tag legen”

Russlands Antrag auf WTO-Mitgliedschaft läuft formal seit 1993, der Kasachstans seit 1996. In beiden Ländern gilt ein baldiger Beitritt als übergeordnetes wirtschaftspolitisches Ziel. Das Spezielle der Kandidaturen ist, dass beide Länder beabsichtigen, gleichzeitig beizutreten. Dies, da der Wirtschaftsaustausch Russland – Kasachstan von besonderer Bedeutung ist. Durch den simultanen Beitritt soll der bilaterale Handel nicht gehemmt werden, denn Russland ist mit Abstand Kasachstans wichtigster Handelspartner. Zehn Prozent der kasachischen Exporte gehen in die Russische Föderation, und rund ein Drittel aller Waren in Kasachstan kommt aus Russland. Nach der Ukraine und Weißrussland ist Kasachstan der wichtigste Wirtschaftspartner Russlands in der GUS, mit Abstand der wichtigste Partner in Zentralasien und ein bedeutender Rohstofflieferant. Eine weitere Gemeinsamkeit: Beide beabsichtigen, ihren Agrarsektor weiterhin umfassend zu stützen. Vor allem Russland hat aber nach anfänglicher Liberalisierung des Außenhandels in den letzten Jahren seine Agrarprotektion sogar erheblich erhöht und fordert nun eine Sonderbehandlung innerhalb der WTO. Es wird offen über zukünftige Zoll- und Subventionsanstiege gesprochen. Dies liefert viel Zündstoff in den WTO-Beitrittsgesprächen mit Russland – ganz abgesehen von Korruption und Übervorteilung in der Zollabwicklung. „Vor Abschluss der Doha-Runde wird man Russland nicht in die WTO aufnehmen”, so Ildiko Latjos vom Institut für Agrarentwicklung in Mittel- und Osteuropa (IAMO) in Halle. Für keinen Staat mit dem Ziel, den Wohlstand seiner Bevölkerung zu steigern, ist es auf lange Frist von Interesse, sich von der Weltwirtschaft auszugrenzen. Da Russlands WTO-Beitritt und der Abschluss der im Agrarsektor verfahrenen Doha-Runde in weite Ferne gerückt scheint, ist es fraglich, ob für Kasachstan eine enge Koordination mit dem großen Nachbarn in WTO-Fragen sinnvoll ist. Zumal die Handelsorganisation mit Russland kritischer umgehen wird als mit China. Hier drückten viele WTO-Mitglieder beim Abschluss der Beitrittsgespräche Ende 2001 ein Auge zu. Die weltwirtschaftliche Bedeutung Chinas ist ungleich größer als die Russlands. Chinas Anteil am Welthandel liegt bei etwa sechs Prozent, der Russlands bei knapp einem Prozent.

Damit ist Russland inzwischen die einzige große Wirtschaftsnation, die nicht in das Welthandelssystem der WTO integriert ist. Eine Einigung zwischen Russland und den bisherigen WTO-Mitgliedern ist derzeit nicht absehbar. „Die Industrienationen sollte sich dennoch nicht zu stark auf die Agrarforderungen Russland konzentrieren und Flexibilität an den Tag legen”, so Ildiko Lajtos vom IAMO. Ähnlich äußert sich die Wirtschaft. Wirtschafts- und Industrieverbände aus 21 Ländern haben jüngst aus gesamtwirtschaftlicher Perspektive an die WTO-Mitglieder appelliert, die kommende Welthandelsrunde nicht scheitern zu lassen. „Wir fordern die politischen Führungen auf, mehr Visionen, Ehrgeiz und Verantwortung für ein gehaltvolles Resultat zu demonstrieren“, so ihr Strategiepapier „Global Business Charta“.

25/11/05

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