Der Deutsche Zollverein (1834-1871) diente als Instrument der damaligen politischen und wirtschaftlichen Einheit Deutschlands, analog zur Europäischen Union. In einem direkten Vergleich von EU und EAWU werden Möglichkeiten und Grenzen eines einheitlichen Wirtschaftsraumes von Lissabon bis Wladiwostok skizziert. Sollte man ihn besser bis Schanghai denken?

[…] Radikal andere Deutungen herrschten in der DDR-Forschung vor. Im Vordergrund standen die Klassenkämpfe, zunächst zwischen Adel und Bourgeoisie, dann zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse. Das war einseitig, doch nicht unbegründet: „Die politische Idee, welche auf Seite Preußens dem Zollverein zu Grunde lag, war bekanntlich die Absicht, den subversiven politischen Bestrebungen und ihren chimärischen Theorien dadurch den Boden zu entziehen, dass man einerseits den vorwaltenden Interessen eine solidere Richtung, andererseits dem Nationalgefühl und der National-Einheit ein reales und zugleich edleres Substrat darbot. Dieser Zweck, um dessen Willen allein die von Preußen gebrachten Opfer nicht bereut zu werden brauchen, ist erreicht. Es ist oft und allgemein anerkannt worden, wie sehr der Geist der deutschen Bevölkerungen sich seitdem gebessert und die Ruhe und Einigkeit Deutschlands von unten her auf Seite des Volkes eine neue Bürgschaft erhalten hat.“

Weiter heißt es: „Der Vollständigkeit halber ist darauf hinzuweisen, daß der Zollverein bei der Masse der Bevölkerung – Bauern, Landarbeiter und dem neuen, anwachsenden Industrieproletariat – anders als bei einem Teil des politisch engagierten und wirtschaftlich erfolgreichen Bürgertums auf wenig Gegenliebe stieß. Diese Bevölkerungsgruppen stellten überproportional viele Modernisierungsverlierer… Hierin kam allerdings primär der Wunsch nach wirtschaftlicher Besserstellung denn eine politische Ablehnung des Zollvereins selbst oder gar weitergehende politische Reformziele zum Ausdruck.“

In der westdeutschen Forschung wurde das preußische Interpretationsmuster zwar vereinzelt infrage gestellt, umfassende Untersuchungen zum Zollverein erschienen jedoch erst wieder zu Beginn der 1970er Jahre. Die Befürworter der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) auf der einen und die der europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) auf der anderen Seite versuchten, ihre Standpunkte mithilfe des Zollvereins zu legitimieren. Während die Verfechter der EWG auf die Vorreiterrolle des Zollvereins für die politische Einigung hinwiesen, argumentierten die Fürsprecher der Freihandelszone, dass der Zollverein die Einbindung in die Weltwirtschaft auf liberale Weise ermöglicht hätte. Wolfram Fischer (1928) sah den Zollverein als historisches Vorbild der EWG an. Im Zuge seiner Untersuchungen wurde die fiskalpolitische Bedeutung des Zollvereins herausgearbeitet und – abweichend von den Interpretationsmustern von Treitschkes – der Zollverein nicht als langfristig geplantes System, sondern als Behelfssystem für dringende Bedürfnisse dargestellt.

Seither wurde in mehreren Arbeiten insbesondere die Vielschichtigkeit der ökonomischen Vorgänge herausgearbeitet, in die der Zollverein eingewoben war und die sich gegenseitig beeinflussten. Einig ist sich die neuere Forschung in der Vielschichtigkeit der Zielsetzungen, die mit dem Zollverein verbunden waren.

Dabei herrscht die Tendenz vor, dass seine Gründung kaum als Politik der Industrieförderung, sondern aus fiskalischen und machtpolitischen Interessen erfolgte. Dies schließt nicht den Befund aus, dass der Verein sehr wohl zur Förderung der gewerblichen Entwicklung beigetragen hat. An diese Perspektive anknüpfend wird der Zollverein von der Forschung heute als eine, aber eben nicht alleinige oder ausschlaggebende, wichtige Voraussetzung betrachtet, um den wirtschaftlichen Entwicklungsrückstand der deutschen Staaten gegenüber Großbritannien aufzuholen.

In England wandelte sich die Haltung zu Preußen vom verlässlichsten Verbündeten gegen Napoleon und Muster für Armee, Bildungssystem und Wohlfahrtsstaat zur Verkörperung der Tyrannei, zur „Nazi-Kriegsmaschine mit ihren klirrenden, hackenschlagenden, herausgeputzten Offizieren“. […]

Die Fortsetzung dieses Beitrags lesen Sie in den nachfolgenden Ausgaben

Peter Enders, Galina Nurtasinowa und Ulf Schneider

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