In Kasachstan ist es ein Symbol für Moderne: das Deutsche Theater in Almaty. Es wurde 1980 für die deutsche Minderheit gegründet. Zwar sind die meisten Deutschen inzwischen in ihre Heimat zurückgekehrt, doch das Theater existiert weiter.
Almaty im Sommer – Es ist heiß, die Vögel zwitschern. Am Eingang der Kasachischen Nationalen Kunstakademie in der Panfilow-Straße sitzen junge Musiker und spielen auf der Gitarre. Sie alle verbindet eine Leidenschaft: das Theater. Deswegen sind sie hier, denn in der Kunstakademie findet heute das Auswahlverfahren statt – nicht für die großen Bühnen der Welt, sondern für die Schauspielschule am Deutschen Theater Almaty.
Aufgeregt drängen sich die Bewerber im Flur der Akademie. Schon seit drei Stunden warten sie auf den großen Moment: ihr Vorspiel. Die Luft ist stickig, aufgeregtes Gemurmel hallt durch den Gang. Unter den Wartenden ist auch Anastasia Gurewitsch. Mit geschlossenen Augen übt sie das Gedicht, das sie für ihr Casting vorbereitet hat: „Snowa ne my“ – „Wieder nicht wir“ von Vera Poloskowa, ein Stück über das Glück der anderen im Leben.
Pina Bausch ist großes Vorbild
Die blonde Anastasia ist aus Almaty, 23 Jahre alt und fest entschlossen, ihr Leben künftig nur noch der Kunst zu widmen. Ihre blauen Augen strahlen, als sie vom Deutschen Theater erzählt: „Es klingt vielleicht komisch, aber an der deutschen Kultur fasziniert mich vor allem die Freiheit im Theater. Das deutsche Theater ist Teil einer großen europäischen Kunst, es ist viel interessanter als Unseres. Es hat eine ganz andere Beziehung zum Körperlichen, dazu, was ein Schauspieler überhaupt ist. Da kannst du der sein, der du sein willst, ohne etwas Unnötiges hinzu zu dichten.“
Anastasia träumt von einem modernen kasachischen Theater, das mehr als nur klassisches und traditionelles Theater ist. Sie würde gerne Tanztheater machen, so wie ihr großes Vorbild: „Wenn ich mich mit dem Körper so ausdrücken könnte, wenn das so inspirierend wäre wie bei Pina Bausch, dann wäre ich total glücklich.“
Pina Bausch ist auch das große Vorbild von Natascha Dubs. Die zierliche Frau mit den hellgrünen Augen sitzt auf einer Bank im Park neben der Akademie. Mit ruhiger Hand blättert sie in einem Stapel Papier: Schon 26 Bewerbungen hat sie für das nächste Semester bekommen. Seit 1993 ist Natascha Dubs am Deutschen Theater; seit einem Jahr ist sie hier künstlerische Leiterin und Regisseurin. Wie Pina Bausch hat auch Natascha Dubs das Tanztheater bekannt gemacht – aber nicht in Deutschland, sondern in Almaty. Das Deutsche Theater in der Satpajew-Straße sei ein Synonym für Moderne: Denn es befinde sich gerade in einer besonderen Phase seiner Entwicklung. Es soll wieder zu einem geistigen, kulturellen Zentrum der Deutschen Kasachstans werden und darüber hinaus den Status eines europäischen Theaters in Kasachstan erlagen, erläutert Dubs: „Das ist eine Entwicklung, die wir schon Anfang der 90er Jahre eingeschlagen haben. Wir wollen dem kasachischen Publikum das deutsche Theater näherbringen.“
Denn im Gegensatz zum kasachischen Theater stehe das deutsche für ästhetische Freiheit, für Demokratie. Folklore und Tradition wie im kasachischen Theater spielten hier keine Rolle – nur Begeisterung für die Bühne. Während der vierjährigen Ausbildung erhalten die Schauspielschüler Unterricht in Gesang, deutscher Sprache, Schauspiel und Tanz. Sie lernen, das Theater zu lieben – das, was bis heute auch Natasha Dubs antreibt: „Das bin ich selbst, das ist mein Leben. Das Theater ist der Ort, an dem ich in der Sprache sprechen kann, auf der mich alle verstehen, das ist der größte Teil von mir.“
Theater der deutschen Minderheit
Von Frank Wedekinds „Frühlingserwachen“ bis hin zu Goethes „Faust“ – von Russland über Deutschland bis Korea – so vielfältig ist das Programm der Theatergruppe. In diesem Jahr feiert das Deutsche Theater sein 35-jähriges Jubiläum. Gegründet wurde es für die russlanddeutsche Minderheit.
Momentan leben noch etwa 180.000 ethnische Deutsche in Kasachstan, aber das Theater ist offen für alle.
Einer dieser Russlanddeutschen ist Sergej Teufel. Der Schauspieler, 28 Jahre alt, schlaksig, mit Tattoos und Piercings kam als Kind nach Kasachstan. Nach der Wende verließen viele Russlanddeutsche Kasachstan und das Theater verlor einige Schauspieler. Doch Sergej wusste: Für einen deutschen Schauspieler in Kasachstan gibt es nur einen Ort: Das Deutsche Theater in Almaty. „Ich mache Theater nicht wegen des Geldes, sondern für meine Seele, aus Liebe zum Theater.“
Doch vom Theater allein kann Sergey nicht leben. Um über die Runden zu kommen, gibt er Schauspielunterricht. Seit vier Jahren macht er dies auch am Deutschen Theater. Er ist nicht der einzige, der einen Nebenjob hat. „Das Theater kann nicht genug zahlen, dass ich mich frei fühle, reisen kann oder so etwas“, sagt Teufel.
Ungewisse Zukunft
Doch wie Natasha ist auch Sergey überzeugt: Das Deutsche Theater Almaty ist Avantgarde: „Es gibt kein anderes Theater in Kasachstan, das eine solch moderne Sicht des Theatermachens vertritt. Natürlich gibt es andere auf internationalem Niveau, aber in Kasachstan ist es meiner Meinung nach führend. Aber ich weiß leider nicht, wie es mit dem Theater weitergeht. Ich würde gern glauben, dass wir eine Zukunft haben, aber ich glaube, ehrlich gesagt, nicht daran, dass das Theater wirklich aus dem Grab auferstehen kann.“
Das Grab, das er meint, ist die Bauruine aus Schutt gegenüber vom Theater – die Überbleibsel der Bühne von damals. 2007 sollte das Haus renoviert werden, aber das Geld vom Staat wanderte in die Taschen der damaligen Chefin. Seitdem ist das Theater ohne eigene Bühne und die Mauerreste im Garten vor dem roten Theaterhaus mit der türkisfarbenen, kasachischen Flagge bröckeln weiter.
„Hier saßen die Zuschauer. Dort spielte das Orchester.“Sergej schreitet über die alte Bühne aus Holz. Hier in der Ruine sei es gefährlich, sagt er. Die verrosteten Stühle und vergilbten Sessel wecken Stimmen der Vergangenheit. Hier habe das Orchester gespielt, dort das Publikum gesessen. Die derzeitige Spielstätte ist ein kleiner Keller für etwa 60 Leute im Zentrum von Almaty. Die meisten Zuschauer seien zwischen 20 und 35 Jahre alt, offen und modern, aber auch mit dem notwendigen Kleingeld in der Tasche. Denn Theater in Kasachstan ist nicht billig: Für zweitausend Tenge pro Ticket – etwa zehn Euro – gingen die Leute lieber ins Kino. Immerhin seien wir hier nicht Moskau, wo man bereit sei, zehntausend Rubel zu bezahlen, sagt Sergej.
Nach dem Ende der Sowjetunion ist das Interesse an Kultur zurückgegangen. Das kasachische Kultusministerium hat eine Renovierung des Theaters bis jetzt nicht genehmigt. Ob mit dem neuen Direktor Alexander Dederer alles besser wird, wird sich zeigen. Dederer ist fest entschlossen, den alten Ruinen wieder Leben einzuhauchen – eine neue, eigene Spielstätte soll her. Vielleicht sogar noch bevor die jungen Bewerber von heute, ihre Schauspielkarriere am Deutschen Theater erfolgreich abgeschlossen haben.
Diese Reportage ist während der IX. Zentralasiatischen Medienwerkstatt (ZAM) entstanden. Die ZAM ist ein gemeinsames Projekt der Deutschen Allgemeinen Zeitung, des Instituts für Auslandsbeziehungen (ifa), des Goethe-Instituts Kasachstan und der Friedrich-Ebert-Stiftung.