Der kirgisische Schriftsteller Scherboto Tokombajew beschreibt in einer unkonventionellen Prosa das Leben in der Stadt Bischkek. Seine Themen: Die steigende Drogensucht, schamanistische Traditonen und die Suche nach Identität

Es ist ein sehr schmales Heft. Die Seiten liegen lose auf, manche schieben sich über den Rand, wenn man in dem Heft zu blättern beginnt. Auf der dritten Seite findet sich ein umrisshaftes Porträt des Dichters, es folgen filigrane, nomadisch angelehnte Motive und geschwungene Ornamente, wie sie oft an den Häuserwänden Bischkeks zu sehen sind. Die Gedichte selbst drängen sich nicht auf. Diskret platziert, nüchtern und mit Würde lenken sie den Blick auf sich. Scherboto Tokombajew nennt das Prinzip solchen Layouts „Wabi“ – ein Terminus aus dem Japanischen, der inhaltliche Fülle bei gleichzeitiger Diskretion und Unaufdringlichkeit bedeutet.

Tokombajew ist ein Spezialist des Wabi. Seit Jahren zeichnet der 30-Jährige das Leben in der kirgisischen Hauptstadt Bischkek auf. Und pflegt dabei einen ungewöhnlichen, neuen Ton. Seine in russischer Sprache verfassten Gedichte, Essays und Erzählungen handeln von Junkies, die sich in Häusereingängen Heroin spritzen, von Prostituierten, die ihrer Arbeit nachgehen, von zu schnell vergehenden Augenblicken im Leben der Stadt, in denen alles möglich erscheint, von der Vergeblichkeit des Rausches und dem unerklärlichen Drang, wegzugehen, in die Steppe, zu den Ahnen, zum mythisch verklärten Issyk-Kul-See in den Bergen außerhalb der Stadt. Und manchmal handeln sie von seinem Großvater, Aaly Tokombajew – auch er ein Schriftsteller, eine berühmte Volksfigur, an den inzwischen ein Museum in Bischkek erinnert.

Die Stimme, die am Telefon die Koordinaten durchgibt, klingt aufgeräumt und klar. „12. Stock. Das größte Gebäude in der Straße. Vor ihm ein kleines Geschäft“ sagt sie, dann klackt es in der Leitung. Es ist ein typisch sowjetischer Plattenbau, wuchtig, einschüchternd in seiner Anonymität. „Ranar-Center“ steht an der letzten Tür des Ganges im 12. Stock hoch über dem Lichtermeer der Stadt. Das Ranar-Center ist ein Netzwerk, das Tokombajew zusammen mit seiner Frau 1999 gegründet hat. Es betreut Aids-infizierte Drogenabhängige, die im Gefängnis einsitzen, und hilft ihnen beim Entzug. „Es sind nicht nur ein, zwei Menschen», beginnt Tokombajew das Gespräch, das gleich auf den Grund des sozialen Engagements des Schriftstellers fällt. „Meine ganze Generation ist davon betroffen.“

Eine ganze Generation: Tokombajew meint die 30-Jährigen, deren Biografien geteilt sind in eine sowjetische und eine postsowjetische Zeit. Sie waren Teenies, als Kirgisistan unabhängig wurde – zu alt, um die eigene Sozialisation abzustreifen, und zu jung, um routiniert eine schon eingeschlagene Bahn zu verfolgen. Drogen, günstig zu bekommen in dem an Afghanistan grenzenden Transitland, waren für viele eine Ablenkung. Inzwischen hat das 5 Millionen Einwohner zählende Land mit etwa 100.000 Drogensüchtigen eine der höchsten Drogenraten in Zentralasien.

Wenn Tokombajew solche Fakten aufzählt, wird er sehr ernst, und anzumerken ist ihm eine gewisse innere Erregung. Laut und pathetisch wird er dabei nie. Auch nicht, wenn er von dem Vakuum spricht, das noch immer existiere in Kirgisistan. Ein Vakuum sowohl des Lebens als auch der Literatur. „Es ist noch nicht gefüllt. Man sieht das zum Beispiel an den Autoren meiner Generation. Sie haben wie die alten Schriftsteller zu schreiben versucht. Im Stil des Sozialistischen Realismus. Das hat nicht funktioniert, dann haben sie es gelassen.“ Eine neue Prosa sei nicht in Sicht. Vielleicht, sagt Tokombajew mit einer gewissen Portion Ironie, ist diese Ambitionslosigkeit typisch „asiatisch“. Doch vieles liege an einem Schulsystem, in dem die Literaturgeschichte unterbelichtet bleibt. „Wir sind bei Puschkin stehen geblieben.“ Auch das Verständnis des Manas sei oberflächlich, Etikette.

Das Volksepos der Kirgisen, das 18-mal länger ist als die Illias und die Odyssee zusammen, wurde nach der staatlichen Unabhängigkeit kulturpolitisches Aushängeschild – offizieller Kern einer eigenen, kulturellen Identität. Der Name Manas findet sich auf Streichholzschachteln und Plakaten; doch Gehaltvolles, so Tokombajew, könne niemand von den Schülern zur Geschichte und dem Inhalt des Epos sagen.

Er muss es wissen: Neben seiner Tätigkeit im Ranar-Center arbeitet Tokombajew ab und zu als Lehrer, er hält Literatur-Vorlesungen an Bischkeker Bildungseinrichtungen, und manchmal fährt er ins Ausland, wie vor drei Jahren zu dem Kunst- und Kulturprojekt „Abseits der Seidenstraße“ des Berliner Hauses der Kulturen der Welt. Dort war er zusammen mit seinem kasachstanischen Dichterkollegen aus Almaty, Didar Amantai, eingeladen, als einer der hoffnungsvollen, jungen Schriftsteller Zentralasiens.

„Schlafender Bison“ heißt der Text, der die Erfahrungen aus dem Besuch in Deutschland verarbeitet. Die Berliner Mauer gibt hier Anlass zu einer allgemeineren Meditation über die Trennungen und Grenzziehungen der Menschen, der Traum und das Bewusstsein werden demgegenüber als in jeder Hinsicht grenzüberschreitende Größen vorgestellt. Es ist ein assoziativer Fließtext, dem seine Entstehungssituation sehr genau abzulesen ist. Das gilt für die meisten Arbeiten Tokombajews: Fast immer schreibt in ihnen ein Ich, dass sich seiner selbst vergewissert und sich positioniert, ein Subjekt, dass sich schützend in den Mantel der eigenen Gedanken und Assoziationen hüllt.

Vermittelt trifft das die Situation von Tokombajew selbst, der auf Zuspruch oder gar staatliche Förderung seines Schreibens nicht rechnen kann. Drogen, Aids und Prostitution sind Tabuthemen in der offiziellen Wirklichkeit Kirgisistans, und eine nennenswerte literarische Opposition, die der einzig blühenden Literatur: der Auftragsliteratur, etwas entgegenzusetzen hätte, gibt es nicht. Seine Bücher verlegt Tokombajew selbst. Seinen ersten Roman, an dem er derzeit schreibt, will er in Moskau oder in Almaty verlegen lassen.

Entwerfen, sagt er, will er in ihm einen Generationenwandel, ein kirgisisches „Väter und Söhne“, in dem die Zeit seiner Eltern, die 70er Jahre, ebenso Platz findet wie die Gegenwart. Ein großangelegtes Projekt, vom dem fraglich ist, ob es jemals auf Deutsch erscheinen wird.

Auch von dem Großvater wird in ihm die Rede sein. „Er ist sich treu geblieben“ sagt Sherboto Tokombajew nicht ohne Stolz in den Augen über diesen Mitbegründer der kirgisischen Literatur, der noch im hohen Alter in sowjetischen Literaturgazetten so manche Kontroverse um die richtige Fassung des Manas-Epos anzettelte.

Seine Eltern verlor Aaly Tokombajew bei dem kirgisischen Aufstand von 1916. Mit 14 machte er sich zu Fuß auf den Weg zur Universität für mittellose Analphabeten, das war im Jahr 1918. Während der Reise begann er mit dem Schreiben erster Gedichte. Geld verdiente er sich mit dem Aufsagen von Fragmenten des Manas-Epos, wobei er eigene Teile hinzudichtete. Als proletarischer Schriftsteller, der kirgisisch schrieb, wurde er in Kirgisistan berühmt.

Da ist es wieder, das Thema, das immer wiederkehrt in den eigenen Texten des jungen Schriftstellers. Das Losziehen, das Nomadentum, der Schamanismus, dieser Rest, der mit dem Großvater verbunden ist und zur Erkundung ferner Welten antreibt. Und der zugleich mit einem eigenen, zeitgenössischen Ton gekoppelt ist. „In zwei bis drei Jahren“, sagt Tokombajew, „wird die Angst in den Köpfen schon weniger sein.“ So lang kann er noch warten. Wenn es ihn währenddessen nicht woanders hin verschlägt.

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