2004 kam Georg Dege als Spätaussiedler nach Berlin. Er machte das deutsche Abitur, studierte Sozialwissenschaften mit Beifach Betriebswirtschaftslehre und schloss den Master in Verwaltungswissenschaften ab. Seitdem arbeitet Dege als Referent im Wahlkreisbüro des Spandauer CDU-Abgeordneten – aktuell bei Heiko Metzler. 2013 wurde er als Beauftragter für Aussiedlerfragen in den Kreisvorstand der Spandauer CDU berufen und 2016 zum Sprecher des von der Landespartei neu gegründeten, bezirksübergreifenden Netzwerks Aussiedler. Dabei ist er vor Kurzem erst 30 Jahre alt geworden.

Sie sind nicht mit der großen Auswanderungswelle in den 90ern nach Deutschland gekommen, sondern erst 2004. Warum überhaupt die Entscheidung, nach Deutschland zu ziehen?

Sehr viele Verwandte wohnten bereits in Deutschland, der Entschluss nachzuziehen lag nah. Wir hatten bereits 1998 einen Aufnahmeantrag gestellt. Es gab ein kleines Problem mit ein paar Unterlagen, ein Hin und Her zwischen den Behörden in Kasachstan und Russland. Deswegen mussten wir etwas länger warten. Ansonsten wären wir schon längst hier gewesen.

Was war für Sie der größte empfundene Unterschied zwischen ihrem alten und neuen Zuhause?

Ich habe vorher im Gebiet Kaliningrad in einer Stadt mit 7000 Einwohnern gelebt und kam in eine Stadt mit 3.5 Millionen Einwohnern. Das Leben in Berlin ist viel intensiver. Man ist in diese kochende Suppe eingetaucht und musste sofort alles lernen.

Was war Ihr erster Eindruck von Deutschland?

Das Deutsch, das ich in Russland gelernt habe, ist ein anderes als man in Deutschland spricht. Klar, ich konnte mich verständigen. Als ich in Berlin angekommen bin und angefangen habe, das Abitur zu machen, war es schon heftig. Also das erste Jahr war sehr anstrengend. Aber danach beherrschte ich die deutsche Sprache, die man hier spricht.

Inwiefern unterscheidet sich das Deutsch, das Sie in Russland gelernt haben, von dem, das sie in Berlin gehört haben?

Das Deutsch, das ich mitbrachte, war diese höfliche, überhöfliche Sprache. Die benutzt man nicht im Alltag.

War es für Sie schwer, Anschluss zu finden?
Am Anfang ja. Ich war siebzehn als ich nach Deutschland kam. Ich habe auch viele Freunde in Russland zurücklassen müssen. Diese sozialen Bindungen, die man abbricht und in Deutschland nicht sofort findet, das hat schon gefehlt am Anfang.

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Vermissen Sie noch etwas aus Russland?

Freunde. Aber die Entfernung von Berlin nach Kaliningrad beträgt nur 600 Kilometer, daher fahre ich ab und zu hin. Ansonsten habe ich mich hier eingewöhnt und fühle mich in Deutschland zuhause.

Aber wenn ich nach Moskau komme, spüre ich sofort, dass ich in Russland sozialisiert wurde. Da spüre ich doch diese Nähe zur alten Heimat.

Wie genau äußert sich diese Sozialisation?

Ich bin ja elf Jahre lang in eine russische Schule gegangen. Meine Eltern wurden noch in der Sowjetunion sozialisiert. Das prägt auch. Man hat etwas von einem Land mitbekommen, das quasi nicht mehr existiert.

In Russland ist es dieser Kollektivgedanke. Auch diese Strenge in der Schule, dieses Autoritäre.

Als ich gesehen habe, wie viele Freiheiten sich die Schüler im Unterricht in Deutschland herausnehmen, war das für mich auch ein kleiner Kulturschock.

Disziplin und Respekt vor den Erwachsenen, den Lehrern – das habe ich in Berlin so nicht gesehen. Ich weiß nicht, wie es jetzt in Russland ist, aber zu meiner Zeit war das sehr wichtig.

Ein Jahr nach Ihrer Ankunft in Deutschland sind sie der CDU beigetreten. Warum die Christdemokraten?

Ich habe mich vorher mit der Geschichte der Partei auseinandergesetzt und kannte auch Konrad Adenauer als Persönlichkeit, die hier die CDU mitgegründet hat. Mich hat damals sein Wille beeindruckt, sich gegen Viele durchzusetzen. Er hat wirklich das Beste für das Land gewollt. Auch die Tatsache, dass er die Russlanddeutschen als Deutsche anerkannt hat, war für mich entscheidend.

Welche Motivation treibt Sie an, politisch aktiv zu sein?

Der Wunsch, etwas zu verändern, etwas für die Russlanddeutschen zu erreichen. Ich habe ja gesehen, es gibt nicht so viele Russlanddeutsche, die aktiv an der Politik beteiligt sind. Dementsprechend haben sie weniger Möglichkeiten, sich zu engagieren oder ihre Interessen durchzusetzen. Da dachte ich mir, dass das gerade hier in Berlin mit 150 000 Aussiedlern ein notwendiger Schritt sein muss.

Was sind denn die Interessen der Russlanddeutschen?

Ein wichtiger Punkt ist die Anerkennung von Bildungsabschlüssen. So ist es z.B. bei sozialpädagogischen oder Lehramtsabschlüssen problematisch. Ich kenne viele LehrerInnen, die aus den ehemaligen Sowjetrepubliken kommen und hier keine Arbeit in ihrem Bereich finden können, weil sie zunächst wieder drei Jahre studieren müssen. Dabei hat ja gerade Berlin einen immensen Lehrermangel. Ich setze mich dafür ein, dass wir ein schnelleres Anerkennungsverfahren dafür entwickeln, damit die Leute gleich in den Beruf einsteigen können. Ein anderes Thema ist der sogenannte Paragraf 8 des Bundesvertriebenengesetzes. Dieser betrifft Angehörige von Russlanddeutschen, die nicht die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen haben, sondern nur einen Aufenthaltsstatus. Beim Versterben des Ehegatten oder der Ehegattin haben sie keine juristische Möglichkeit mehr, hier zu bleiben. Da muss man klare Regelungen schaffen und dafür setzen wir uns jetzt ein. Wir als Russlanddeutsche kennen diese Thematik im Gegensatz zu einem einheimischen Politiker, der damit wenig zu tun hat.

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Wie kommen Sie mit den Leuten in Kontakt?

Ich habe 2011 bei einem Wahlkampf in Spandau mitgemacht und bin natürlich sofort in unser Milieu gegangen. Also da, wo es nur oder hauptsächlich Russlanddeutsche gibt. Da habe ich z.B. auf Veranstaltungen viele Menschen kennengelernt. Die haben mir berichtet, was besser gemacht werden müsste und wo sie Unterstützung seitens der Politik bräuchten. Das habe ich alles in meine Arbeit aufgenommen. So ist ein Netzwerk entstanden. Es kommen immer mehr Menschen zu uns, weil sie mitbekommen haben, dass es hier einen russischsprachigen Kommunalpolitiker gibt, der auch als eine Brücke zu den anderen Politikern dienen und die Anliegen der Russlanddeutschen an diese herantragen kann.

Die CDU hatte unter den Aussiedlern stets eine zuverlässige breite Wählerschaft. In der letzten Berliner Landtagswahl, hat die AFD jedoch einen großen Teil dieser Wählerstimmen für sich gewinnen können. Ist das ein Zeichen dafür, dass die CDU diese Wähler vernachlässigt hat?

Ich würde nicht gleich von Vernachlässigung sprechen. Klar, am Anfang war die Euphorie ‚Helmut Kohl holt Russlanddeutsche zurück nach Deutschland’ – und viele haben sich bedankt. Es war eine schöne Geschichte. Tatsächlich gab es bereits unter Kohl Bedenken, insbesondere vom damaligen Bundesarbeitsminister Norbert Blüm. Dass so viele Menschen kamen, dass man das nicht mehr richtig handhaben konnte, führte zu Differenzen bezüglich der Russlanddeutschen.

Letztendlich hat Merkel 2013 eine wichtige Novelle des Bundesvertriebenengesetzes eingebracht, wonach jetzt Russlanddeutsche leichtere Einreisebestimmungen haben. Auch diejenigen, die vorher keine Möglichkeit hatten, zum Beispiel auf Grund mangelnder Sprachkenntnisse.

Wie erklären Sie sich dann den Zulauf von russlanddeutschen Stimmen bei der AFD?

Es ist so, dass viele Parteien in Deutschland sich Richtung Mitte bewegt haben und die Unterschiede kaum mehr auszumachen sind. Das ist problematisch für den Wähler. Gerade bei der Flüchtlingspolitik muss man ehrlich sein. Viele waren damit nicht einverstanden. Da hat die Bundesregierung Fehler gemacht. Das hat Merkel letztendlich auch zugegeben.

Glauben Sie, dass es insbesondere bei Russlanddeutschen mit einer gewissen Enttäuschung zusammenhängt oder sogar Neid, dass man es selbst – obwohl Deutscher – damals so schwer gehabt hat und jetzt die ankommenden Flüchtlinge mit offenen Armen empfangen werden?

Es ist natürlich einer der Gründe, das habe ich auch viel hier auf der Basis gehört.
Aber da muss man differenzieren. Auf der emotionalen Ebene verstehe ich das alles. Ich kann es nachvollziehen, weil ich und meine Familie auch sechs Jahre gebraucht haben, um nach Deutschland kommen zu können. Aber juristisch betrachtet, ist es etwas Anderes. Wir sind nicht vor einem Krieg geflohen. Auch wenn unter den Flüchtlingen Menschen sind, die nicht vor einem Krieg fliehen, ist es grundsätzlich eine andere Situation. Deswegen kann man das nicht vergleichen. Den Russlanddeutschen das zu erklären, ist eine andere Sache.
Die Menschen fragen: „Ja, warum ist das so?“ Ich antworte: „Das sind die Gesetze und damit muss man leben. Ansonsten würde man sie nicht brauchen.“

Wird Ihre rationale Argumentation aufgenommen? Die populistischen Parteien haben ja gerade damit Erfolg, dass sie die Leute auf der emotionalen Schiene abholen.

Das ist wirklich schwer, da durchzubrechen. Aber bei mir in Spandau zum Beispiel – ich kann ja nicht von ganz Berlin sprechen – ist das nicht so ein Problem. Klar haben einige Russlanddeutsche die AfD gewählt. Aber ich bin schon seit Jahren hier unterwegs und habe schon viel in Kulturzentren vermittelt oder Programme für Russlanddeutsche auf die Beine gestellt. So bekommen sie mit, was die CDU konkret für sie macht.

Und was hat bisher die AfD in Spandau gemacht für diese Menschen? Nichts. Das sehen sie dann und lassen sich von den populistischen Losungen nicht mehr einlullen.

Aber wenn ich zum Beispiel in einen anderen Stadtteil komme, wo ich nichts vorzuweisen habe, weil es nicht mein Bezirk ist, fällt es mir schwerer. Man muss Menschen mit Handlungen überzeugen.

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Was würden Sie Russlanddeutschen sagen, die mit ihrer Situation nicht zufrieden sind, weil ihre Erwartungen vielleicht nicht erfüllt wurden?

Meiner Meinung nach ist es eine Sache der Einstellung. Entweder stellt man sich darauf ein, hier zu bleiben und das auch zu wollen oder man ist schon von Anfang an unzufrieden und will hier nichts mehr aufbauen, sagt sich „Ok, Deutschland ist nichts für mich, und ich gehe zurück.“

Ich kann da von mir sprechen. Damals kam ich nach Deutschland mit dem festen Entschluss, hier etwas zu erreichen. Ich wusste schon, wie die Lage in Deutschland ist und nach Russland zurückzugehen war von Anfang an kein Thema. Manche, die z.B. heute nach Deutschland kommen und mehr von diesem Land erwarten als es geben kann, resignieren und wollen wieder zurück. Da kann man wenig argumentieren.

Was sind Ihre Ziele im Hinblick auf Ihre politische Tätigkeit?

Ich werde weiterhin die Russlanddeutschen hier im Bezirk und in Berlin unterstützen. Wir haben jetzt ein festes Team und wollen weiterkommen. Wir wollen weiter dieses Netzwerk aufbauen, damit wir eine Stimme haben in der Politik. Letztendlich sind die Möglichkeiten unbegrenzt. Man kann bis in den Bundestag kommen und die Interessen der Russlanddeutschen vertreten. Das Potenzial ist riesengroß. Wir haben alleine mehr als drei Millionen russischsprachige Spätaussiedler in Deutschland, und bisher sind wir unterrepräsentiert in der Politik. Deswegen ist unser Ziel, auch mehr Russlanddeutsche in der Politik zu haben. In Spandau klappt das ganz gut, und wir hoffen, das auch in ganz Berlin zu erreichen.

Das klingt sehr ambitioniert und nach sehr viel Arbeit.

Bei mir gibt es 24 Stunden am Tag Politik. Klar gibt es auch Familie, aber da muss man flexibel sein, da man in der Politik lebt. Die politischen Themen gehören fest zu meinem Alltag. Ob Wochenende oder unter der Woche – ich bin tatsächlich in der Politik eingespannt.

Sie sind in Karaganda geboren. Haben Sie noch Verbindungen nach Kasachstan?

Leider nicht mehr, nein. Ich habe als Kind Karaganda verlassen und bin seitdem nicht mehr dort gewesen. Nicht mal mehr Verwandte leben dort.

Haben Sie in Zukunft vor, hinzureisen?

Ja klar. Wenn ich Zeit habe, würde ich gerne mal nach Karaganda fahren. Schließlich bin ich da geboren und habe sieben Jahre dort gelebt. Ich würde mir gerne ansehen, wie sich die Stadt verändert hat. Ich habe mehrere Orte in Erinnerung und möchte vergleichen, ob diese mit der Realität noch übereinstimmen.

Das Interview führte Ina Hildebrandt.

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