Anlässlich der denkwürdigen Daten – 100 Jahre Gründung deutscher Autonomie an der Wolga 2018 und 95 Jahre Gründung der ASSR der Wolgadeutschen 2019 – nimmt „Volk auf dem Weg“ in einer Beitragsserie verschiedene Aspekte der wolgadeutschen Kulturgeschichte, insbesondere in den Jahren von 1918 bis 1948, unter die Lupe. Dazu gehören auch Zeitzeugenberichte und themenbezogene Bücher russlanddeutscher Autoren, die bei der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland oder in anderen Verlagen erschienen sind. Wir übernehmen den Artikel mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Nach der Zeit des „Kriegskommunismus“ führte die Neue Ökonomische Politik (NÖP) der Jahre 1921 bis 1927 landesweit zwar zu einem gewissen wirtschaftlichen Aufschwung, der sich auf alle anderen Lebensbereiche positiv auswirkte. Dennoch wurden Anzeichen der repressiven Politik der Sowjetregierung seit Ende der 1920er Jahre auch in der Wolgarepublik mit ihren autonomen Rechten immer deutlicher.

Bis 1926 hatte sich die Landwirtschaft wieder so weit erholt, dass die Wolgarepublik zu den Gebieten Sowjetrusslands mit den größten Getreideüberschüssen aufrücken konnte.

Unterschiedlichste Formen der landwirtschaftlichen Kooperationen, zu denen am Vorabend der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft rund zwei Drittel aller Bauernwirtschaften gehörten, versorgten die Bauern mit Saatgut, Traktoren und anderen landwirtschaftlichen Maschinen. Durch Kredite der Wolgadeutschen Bank entstanden genossenschaftliche Betriebe zur Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte: Tabakproduktion, Milch- und Knochenverarbeitung. Der Verband der Konsumgenossenschaften konnte auch Mittel für soziale und kulturelle Zwecke bereitstellen.

Industrialisierung und Modernisierung der Wirtschaft: Seit Mitte der 1920er Jahre wurde die industrielle Entwicklung der ASSRdWD vorangetrieben. In der Marxstädter Maschinenfabrik „Wiedergeburt“ wurde der erste eigene Kleintraktor hergestellt, wegen seiner geringen Abmessungen „Karlik“ (Zwerg) genannt. Die Fabrik produzierte auch andere landwirtschaftliche Maschinen und Geräte in größeren Mengen.

Außerdem hatten die meisten Weberei- und Textilbetriebe (Sarepta, Balzer, Kratzke), Sägewerke, Getreidemühlen, Leder-, Senf- und Tabakfabriken ihre Produktion wieder aufgenommen. Bereits vorhandene Betriebe wurden stark erweitert und modernisiert. Die Knochenmühle und das Fleischkombinat in Engels gehörten zu den größten in der Sowjetunion. Anfang 1930 verbesserte sich mit der Inbetriebnahme des Großkraftwerkes Saratow die Energieversorgung der Wolgarepublik entscheidend.

Seit Mitte der 1920er Jahre legte der Volkswirtschaftsrat der Republik vom Reingewinn der Industrieproduktion 25 Prozent in einen so genannten Industriefonds an. Mit diesen Geldern wurden Maschinen erneuert, Industrieanlagen erweitert und Wohnungen für Arbeiter gebaut. Gezielt wurde auch die nationale Arbeiterklasse herangebildet – der Anteil der Arbeiter deutscher Nationalität wurde bis auf 65 Prozent erhöht.

Zwangskollektivierung, Enteignung und Hungersnot 1932-1933: In den Jahren 1929-1931 schlug die Sowjetführung mit Stalin einen radikalen Kurs der Zwangskollektivierung ein. Durch die Vergemeinschaftung von Land und Nutztieren in Kollektivwirtschaften verwandelte sich der selbständige Bauer in einen besitzlosen Lohnarbeiter, der vom Staat abhängig war. Noch 1928 stieß das Vorhaben der Sowjets bei vielen wolgadeutschen Bauern auf eine Ablehnung – besonders stark in den Kantonen Frank und Kamenka, wo die aufgebrachten Bauern die Kollektivwirtschaften auflösten und die Aussiedlung der sogenannten Kulakenfamilien verhinderten.

Damals gab es im Wolgagebiet an die 180 Kolchose, die allerdings nur knappe sieben Prozent der Bauernwirtschaften vereinten. Schon Ende 1929, als die Zwangskollektivierung vorangetrieben wurde, waren bereits 32 Prozent der Wirtschaften vergemeinschaftet. Dieses Tempo erfuhr noch eine Steigerungsform, nachdem eine Regierungsdelegation im November 1929 die Wolgarepublik besucht hatte. So dass 1931 rund 95 Prozent der wolgadeutschen Bauernhöfe kollektiviert waren – im sowjetischen Vergleich eine Spitzenposition.

Gleichzeitig mit der Zwangskollektivierung erfolgten Enteignungen der „Kulaken“ und ihre Aussiedlung in den hohen Norden und nach Sibirien. In diesem Zeitraum sollen laut statistischen Quellen landesweit über 50.000 Personen deutscher Nationalität hinter den Ural deportiert worden sein. Aus der ASSRdWD wurden 4.288 Familien mit 24.202 Personen (3,7 Prozent aller Bauernwirtschaften) zwangsausgesiedelt, was deutlich über dem Landesdurchschnitt von ca. 1,5 Prozent lag.

Außerdem kam es 1932-1933 erneut zur Missernte und zur großen Hungersnot. Wie schon vor zehn Jahren war das Wolgagebiet erneut stark davon betroffen. Auch wenn es dazu keine verlässliche Statistik gibt, schätzt man die Zahl der Opfer in der Wolgarepublik auf etwa 45.300 Menschen. Viele wandten sich in ihrer lebensbedrohlichen Lage an Landsleute in Europa und Amerika sowie an kirchliche und gesellschaftliche Organisationen in Deutschland, der Schweiz und anderen europäischen Ländern.

Diese Hilferufe und sämtliche Kontakte mit Ausländern wertete die sowjetische Führung – anders als während der Hungerkatastrophe Anfang der 1920er Jahre – als Verletzung der Treue zur „sozialistischen Heimat” mit entsprechenden Konsequenzen, schreibt der Historiker Viktor Krieger. Den Versuchen der ausländischen Organisationen, den Notleidenden in der Sowjetunion zu helfen, stand die Sowjetführung diesmal entschieden ablehnend gegenüber.

Kirche und Glaube – Verfolgung und Zerstörung: Gleichzeitig trat auch in Glaubensfragen eine entscheidende Wende ein. Die Religionspolitik fiel nicht in den Kompetenzbereich der ASSRdWD, sondern wurde von Moskau vorgegeben und verfolgte auch im Wolgagebiet eine offen antireligiöse Linie im Sinne der Parteiideologie.

Die Zwangskollektivierung mit Enteignungen und Aussiedlungen hatte unter anderem zur Folge, dass den evangelischen wie katholischen Gemeinden die materielle Basis für eine geordnete Kirchenarbeit entzogen wurde. Die Ortsbehörden trieben die Steuern der Pfarreien so hoch, dass die Gläubigen sie nicht mehr aufbringen konnten.

Auch der Mangel an Pastoren und Priestern entwickelte sich zunehmend zum größten Problem der beiden Kirchen. Viele Kirchendiener hatten infolge der revolutionären Ereignisse und des Bürgerkrieges ihre Gemeinden verlassen. Die theologischen Fakultäten Dorpat und Helsinki gehörten nun zum estnischen bzw. finnischen Ausland. 1925 wurde ein neues Predigerseminar in Leningrad eröffnet, bis zur Auflösung 1933 konnten hier insgesamt 57 Theologen ihr Studium abschließen. Obwohl 1924 eine neue ev.-lutherische Kirchenordnung verabschiedet und vom sowjetischen Staat anerkannt wurde, nahmen die Repressionen gegen evangelische Geistliche seit Ende der 1920er Jahre drastisch zu.

Als erster katholischer Bischof wurde schon 1919 der Erzbischof von Mogiljow, Eduard Baron von der Ropp, verhaftet und nach mehrmonatiger Haft ausgewiesen. Ihm folgten in den 1930er Jahren die vier Diözesanbischofe und Absolventen des Saratower Priesterseminars (aufgelöst 1920): Anton Johannes von Padua Zerr, Dr. Josef Aloisius Keßler, Dr. Alexander Frison und Dr. Markus Glaser. Im Zuge der atheistischen Staatspolitik verringerten sich die katholischen Gemeinden erheblich, auch wenn das 1848 gegründete Bistum Tiraspol mit Sitz in Saratow bestehen blieb. Noch 1915 hatten hier in 36 katholischen Pfarreien 44 Priester gewirkt – 1932 waren nur noch vier im Amt.

1929 trat das Dekret „Über die religiösen Gemeinschaften“ in Kraft, das massenhafte Schließungen von Kirchen zur Folge hatte. Zahlreiche Gotteshäuser verwandelte man in Kinos, Schulen, Sporthallen, Museen, Lagerräume, Werkstätten oder Viehställe. Zur gleichen Zeit wurde das Läuten der Glocken verboten, die Glocken abgenommen und eingeschmolzen. 1928-1929 setzte eine Anti-Weihnachts-Kampagne ein, später nahmen ähnliche Aktionen gegen die christlichen Hauptfeste immer schlimmere Formen an.

Die sowjetische Rechtsstellung reihte die Geistlichen in die Kategorie zweitrangiger Bürger mit entsprechenden Folgen ein. Verleumderische Pressekampagnen stellten die Kirchendiener als „Gehilfen der Konterrevolution“ und „Volksfeinde“ dar. Verhaftungen, Schauprozesse, Verurteilungen und Verbannungen von Geistlichen und engagierten Laien waren an der Tagesordnung.

1937 wurden die letzten neun noch tätigen Pastoren verhaftet: Die evangelisch-lutherische Kirche in Russland hatte als geordnete Kirche aufgehört zu bestehen. Von den etwa 170 katholischen Geistlichen, die noch in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts an der Wolga ihren Dienst taten, starben nur zwei eines natürlichen Todes. Den letzten Priester hatte man in Saratow im Jahre 1936 gesehen, er wurde nach einer Messe verhaftet, als er aus der Kirche kam. Bis Ende der 1930er Jahre wurden im Wolgagebiet sämtliche evangelische und katholische Kirchendiener verbannt bzw. umgebracht, die Kirchen umfunktioniert oder zerstört, der Glaube existierte nur noch im Untergrund.

Der „Rote Terror“ – politische „Säuberungen“ der 1930er Jahre: Die Autonomierechte, die sich hauptsächlich auf die Selbstverwaltung beschränkten, konnten die Bevölkerung der Wolgarepublik nicht gegen staatliche Übergriffe innerhalb eines totalitären Regimes schützen. Schon zu Beginn der 1930er Jahre beschränkte sich die Rolle der örtlichen Partei-, Staats- und Regierungsführung faktisch auf das Vollstrecken der von der Moskauer Zentrale erteilten Direktiven. Ungeachtet dessen, dass die kommunistische Weltanschauung in der Wolgarepublik genügend Anhänger hatte, wurden die politischen „Säuberungen“ auch hier gnadenlos durchgesetzt.

Unter den 9.741 Mitgliedern der Republikparteiorganisation betrug der Anteil der Deutschen immerhin 49,6 Prozent (Stand März 1940). Zur gleichen Zeit bestand der Kommunistische Jugendverband (Komsomol) mehrheitlich aus Wolgadeutschen: Junge Menschen fühlten sich durch neue Arbeits- und Lebensformen, Bildungsangebote und Aufstiegsmöglichkeiten angezogen.

Schon am 5.11.1934 fasste das ZK der Kommunistischen Partei den Beschluss „Über den Kampf gegen das konterrevolutionäre faschistische Element in den deutschen Kolonien“, der zum Kampf „gegen die Faschisten und ihre Helfershelfer“ unter der deutschen Bevölkerung aufforderte. Das ZK kritisierte „die äußerst schwache Reaktion der örtlichen Organisationen der Partei und des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten (NKWD, in das die GPU 1934 eingegliedert wurde) auf die Aktivierung der antisowjetischen Kräfte“ und forderte, die Verbindungen der Deutschen in der Sowjetunion zu den „bürgerlich-faschistischen Organisationen“ und „den Empfang von Geld und Paketen“ zu unterbinden und zu bestrafen. Die Parteikomitees der verschiedensten Ebenen sollten „in Bezug auf die aktiven konterrevolutionären und antisowjetisch gestimmten Elemente repressive Maßnahmen einleiten, Verhaftungen vornehmen sowie die bösartigen Führer zur Erschießung verurteilen“. Der Beschluss wurde mit aller Härte durchgesetzt.

Im Zuge des stalinistischen „Roten Terrors“, der in den Jahren 1937-1938 seinen Höhepunkt erreichte, wurden im Wolgagebiet zahlreiche Deutsche (Intellektuelle und Geistliche, Bauern und Arbeiter) als „Agenten des faschistischen Regimes“ verdächtigt, als „Volksfeinde“ und „Spione“ verhaftet, von den sogenannten „Troikas“ abgeurteilt und anschließend erschossen oder in Zwangsarbeitslager deportiert. Die Intensität der Verfolgung der Wolgadeutschen in den Jahren des „Roten Terrors“ mit 6.698 Verurteilten, davon 3.632 erschossenen Menschen, lag anderthalbfach höher als im Landesdurchschnitt, war aber aufgrund des Autonomiestatus etwas niedriger als z.B. unter den Deutschen in der Ukraine.

> Fortsetzung folgt

Zusammenfassung: Nina Paulsen (nach Texten von Alfred Eisfeld, Viktor Krieger, Johannes Schleuning).

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