Manchmal sind Standardlösungen praktisch, manchmal möchte man als Verbraucher aber auch individuell behandelt werden. Auf der Suche nach Exklusivität erlebt Kolumnistin Julia Siebert jedoch eine böse Überraschung.

Mir ist klar, dass ich nur eine Artgenossin der Spezies Mensch und ein kleiner Teil der Gesellschaft bin, und insofern folge auch ich nur den markt- und handelsüblichen Mustern, Phasen, Reflexen, Instinkten und Gesetzen des Menschseins. Und so wünsche auch ich mir, wie es zum Menschsein dazugehört, mehr Individualität und Exklusivität, als mir zusteht.
Wenn ich beraten werde, macht es mich stets stutzig, wenn der Ratgeber allen Ratsuchenden inklusive mir die beinahe selben Ratschläge erteilt. Wenn ein Homöopath bei nahezu seinem gesamten Patientenstamm zu viele freie Radikale feststellt und allen dasselbe Mittel verschreibt und wenn die Arbeitsberater dem Großteil ihrer Klientel eine Umschulung zum IT-Administrator empfehlen, dann sind wir entweder viel weniger individuell als angenommen oder aber wir wurden nach Schema F beraten. Schema F ist OK und kann sogar das Leben erleichtern, aber eben nur in bestimmten Lebensfragen und bis zu einem gewissen Grad. Auf der Post und im ÖPNV z.B. finde ich Schema F für den Alltagsgebrauch ungeheuer praktisch: Zone A = 2,60€, Päckchengröße S = 2,20€. Will ich aber einen Tag lang kreuz und quer durch die Gegend fahren und dabei noch Tarifgrenzen überschreiten und Pausen einlegen oder will ich ein Paket ohne Versicherung aber im Eilverfahren und trotzdem günstig nach Russland schicken, dann brauche ich eine individuelle Exklusivberatung, glasklar.

Ich wollte mir zuletzt einen schönen Abend bereiten, wozu eine gute Flasche Rotwein gehört, drum sollte es kein 08/15-Wein sein, der einfach nur lecker ist, sondern einer, den ich Tropfen für Tropfen genießen kann. Dass ich in einem zwar gut sortierten aber eben doch nur Supermarkt einen echten richtigen Sommelier antraf, fand ich toll. Und legte sogleich los: Dies und das sei meine Geschmacksrichtung, heute würde ich dieses und jenes zubereiten, was zu mir und meinem Abendmahl am besten passen würde. Und als er dann ausführlich, fachkundig und exklusiv auf meine individuellen Geschmacksknospen und finanziellen Verhältnisse einging, war ich ganz aus dem Häuschen. Ja ja ja, genau so und nicht anders will ich behandelt und beraten werden, am liebsten in allen Lebensfragen! Der Sommelier war der lebende Beweis, dass es geht. Heute war ich wieder dort, und während ich geduldig auf den Sommelier meines Vertrauens wartete, was mussten da meine lauschenden Ohren hören? Genau denselben Text, den er mir zuletzt serviert hatte, oh Nein, oh Schreck! Wenn dies kein Déjà-vu war, dann war hier etwas Arges im Gange. Und tatsächlich, er erzählte Kunden, die sicherlich eine komplett andere geschmackliche Sozialisationen und Neigung haben als ich, „meinen“ Beratungstext, der doch mir persönlich auf den Leib geschneidert war. Oder eben auch nicht. Tja, Exklusivität adé!

Dass der Individualitätsanspruch in einen Individualitätswahn zu entarten droht, drückt sich u.a. darin aus, dass sich Menschen in Wochenend-Workshops ihre eigenen Grabsteine zurechthämmern und meißeln, um sicherzugehen, dass wenigstens im Tod der individuellen Persönlichkeit angemessen Ausdruck verliehen wird. Anstatt mich weiterhin mit der Behauptung meiner Individualität und Exklusivität zu stressen, steige ich aus der Nummer aus und bekenne mich als 08/15 Durchschnittsmensch. Schema F ist zwar weniger aufregend, dafür aber entspannender.

Julia Siebert

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