Knapp drei Tage braucht der Fernzug von Astana nach Moskau. Viele Fahrgäste fahren wie ich die gesamte Strecke. Der Platzkart-Waggon wurde zu Sowjetzeiten in Deutschland produziert, berichtet mir der Zugbegleiter stolz, als er meinen deutschen Pass bei der Fahrkartenkontrolle am Eingang sieht.

Ich bin nicht in der Stimmung für Smalltalk. Ich komme gerade aus dem Urlaub mit meiner Freundin, fahre allein zurück nach Moskau, wo mich der Umzug zurück nach Europa erwartet. Mein Platz ist Nummer drei, die untere Liege im ersten Abteil, direkt neben dem Samowar und dem dem kleinen Kabuff des Zugbegleiters.

Mir gegenüber reist ein alter, dünner Mann. Ein Russe aus Kasachstan, Jahrgang 1962. Er ist Wachmann in Astana und beschwert sich über die Korruption in seinem Land. Nun fährt er zu seinem Sohn und dessen Kindern nach Moskau. Seine Frau hütet derweil Haus und Hof. Es ist seine erste große Reise seit 1982. Damals war er schon einmal in Moskau, nach dem Auslandseinsatz in Afghanistan. Vier Monate. Versunken sitzt er da, nuschelt leise vor sich hin. „Auf dass wir nie wieder Krieg haben werden! Afghanistan war besonders brutal.“ Er stellt sich nur mit Vatersnamen vor: Petrowitsch.

Ein „abartiges“ Gespräch

Mein Nachbar ist Frühaufsteher, der Zugbegleiter auch. Um neun Uhr morgens wecken sie mich nach der ersten Fahrtnacht mit einem gruseligen Gespräch. Auf der Pritsche gegenüber sitzen sie nebeneinander, schon vertieft in ihre Konversation. Es geht um Frauen und Lebensentwürfe. Mir wird mulmig, denn ich ahne, was kommt.

Fröhlich behauptet der Schaffner, auf Russisch „Prowodnik“: „Würden Frauen keine kurzen Hosen tragen, würde auch nie eine vergewaltigt!“ Zustimmendes Murmeln und Nicken von dem Alten, der gleich fortfährt.

Petrowitsch: „Oder auch diese Lesben und Schwulen überall, vor allem da im Westen, das ist doch abartig! Völlig gegen die Natur des Menschen!“

Prowodnik zustimmend: „Ja, unvorstellbar!“

Petrowitsch: „Da heiraten Männer Männer und Frauen Frauen, da lassen sich Frauen Bärte wachsen und Männer zu Frauen operieren! Wie müssen die Eltern dort ihre Kinder erziehen, damit solche Esel dabei herauskommen?“

Prowodnik: „Ja, bei uns gibt es das zum Glück nicht!“

Petrowitsch: „Ich würde sie auch alle sofort erschießen! Mir gefällt die Idee von Kadyrow (Präsident der russischen Republik Tschetschenien – Anm. d. Red.): ‚Lasst sie nur mal eine Gay-Parade in Grosny veranstalten. Dann kriegen wir sie wenigstens gleich alle zusammen!‘“

Ich starre die beiden an. In meinem Bauch rumort es. Der Prowodnik nennt mich „ausländische Schönheit“. Ich drehe mich weg und ziehe mir die dünne weiße Decke über den Kopf. Als ob ich noch müde wäre. Als ob mich die Bettlaken vor den Stimmen bewahren könnten.

Am Abend noch hatte ich Mitgefühl mit Petrowitsch. Mit Tränen in den Augen hatte er von Afghanistan erzählt. Seit damals könne er töten, sagte er, aber keine Kriegsfilme mehr sehen. Seit damals hatte er einen Kameraden für tot gehalten, bis dieser Freund ihn vor Kurzem plötzlich per Skype anrief. Nun will Petrowitsch von Moskau aus zu dem Kameraden fahren, der heute im Ural lebt.

Ich habe weder in Russland noch anderswo je viel über mein Liebesleben gesprochen. Warum auch? Aber hier würde ich zu gern fragen: „Na, willst Du mich jetzt hier auch gleich erschießen?“ Aber bis Moskau liegen noch zwei Fahrtage vor uns. Wer weiß, wie die Leute hier reagieren würden? In meiner Vorstellung wandelt sich die verbleibende Zeit in einen pausen- und schlaflosen Spießrutenlauf. Ich kneife. Erstmal?

Ich erinnere mich, wie wir uns vor wenigen Tagen noch des Nachts vorm Präsidentenpalast in Astana küssten. Ganz leicht, ganz beschwingt. Vorm Zugfenster ziehen derweil große, grüne Bäume vorbei. Die gab es in Kasachstan nicht. Die Bahnschienen mäandern mit einem Flusstal durch den Südural. Am Morgen hat es geregnet. Aus dem Tal steigen dicke Nebelschwaden auf. Der Himmel ist grau. Wann habe ich zuletzt grauen Himmel gesehen?

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Manas und seine Frauen

Manas
Manas. | Foto: Autorin

Der Zugbegleiter heißt Manas. Wie eine Querstraße an unserer Airbnb-Unterkunft in Almaty. Am Abend treffe ich ihn im benachbarten Coupe-Waggon, wo die Steckdosen funktionieren und man sein Handy aufladen kann. Wir sprechen über Frauen und Männer in Kasachstan, über Manas‘ früheren Freundinnen und seine heutige Frau. Fünf Damen habe er „ausgetestet“: sich eine Weile mit ihnen getroffen, dann seiner Mutter vorgestellt, aber auf ihre Meinung doch gepfiffen. Am Ende entschied er sich für „die Langweiligste“, ein Mädchen aus seiner Kleinstadt. Auf die sei Verlass, meint er. Mehr als auf die Business-Lady aus der Hauptstadt oder die Künstlerin von weiter her, die die Winterkälte in seinem Heimatort nicht ausgehalten habe. Stolz zeigt er mir Bilder seiner Frau: Sie ist schön und häuslich und hat ihm schon zwei wunderbare Kinder geschenkt. Eine Tochter. Und vor allem auch einen Sohn, betont er.

Wir sprechen auch über Homosexuelle. Ich sage ihm, dass mich die Aussagen am Vortag schockiert und verletzt haben. Manas zeigt sich verständnisvoll: Hier sei das eben anders als im Westen. Er versucht, mir seine kasachische Sichtweise zu erklären: In seinem Heimatort gab es angeblich einst einen schwulen Russischlehrer. Als der seinem Schwarm nicht nach Russland hinterher ziehen konnte, habe er Jugendliche im Ort befingert… Und überhaupt sehe das der Islam eben nicht vor, sagt Manas.

Ich bin beruhigt, dass er mit mir spricht. Mit der „Erklärung“ bin ich unglücklich. Nur so eine klischeebeladene Gerüchte-Geschichte. Ich frage mich, ob ein Gespräch mit Petrowitsch über das „Erschießen“ vor Moskau gutgehen wird?

Aber erstmal ist heute in Russland Feiertag der Eisenbahner. Manas gibt Samagon (Selbstgebrannten) aus. An mich und eine andere Reisende. Er scheint sich in weiblicher Gesellschaft zu gefallen.

Moskau naht

Zwei-drei Stunden vor Moskau spreche ich Petrowitsch an: „Warum haben Sie gestern gesagt, dass Sie alle Schwulen und Lesben erschießen wollen?“ „Weißt Du, ich finde, dass das nicht richtig ist. Gott hat Paare geschaffen, aber nicht so etwas. Das sind doch kranke Menschen, finde ich. Oder man muss sie heilen!“

Er spricht ruhig. Ich werde ungehalten: „Aber erschießen – das ist doch zu brutal, das ist doch auch gegen Gott!“ „Aber wozu braucht es denn solche Leute?! Das ist doch gegen alle Natur. Und dann sehen das die Kinder! Nein, ich akzeptiere das überhaupt nicht.“ Petrowitsch meint: Jeder hat seine eigene Wahrheit. Im Krieg wurde mir beigebracht zu töten. Lasst sie doch alle sterben, dann sollen sie sehen, wie sie da drüben dann…“  Ich bin froh, dass er hier nicht weiter spricht.

Ich bin wieder froh, dass wir gesprochen haben. Aber mit dem Ausgang bin ich wieder unglücklich. Noch mehr als gestern. Denn Anzeichen für ein neues Nachdenken sehe ich an ihm nicht. Und ein „Outing“ vor ihm zur Provokation habe ich mich auch nicht getraut. Der Selbstschutz siegte. Aber immerhin schreibe ich alles auf.

Und da erscheinen schon die ersten Moskauer Hochhausfassaden, meine Befreiung aus diesem schwierigen Zug. Am Bahnsteig verabschieden wir uns, der alte Petrowitsch, ich und Prowodnik Manas. Höflich, fast schon vertraut. Ab jetzt macht sich jeder wieder auf seine eigene Reise, jede*r mit ihrer/seiner eigenen Wahrheit.

Peggy Lohse ist ifa-Redakteurin beim LandesEcho in Prag.

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