Sie ist anders als viele ihrer weiblichen Schauspielkolleginnen und sticht nicht nur durch ihr markantes Aussehen, sondern auch durch ihren kämpferischen Geist heraus. Deshalb gelingen ihr vorrangig die burschikoseren Charaktere denn zartbesaitete Frauenrollen. Ein Gespräch über Stereotype, Leidenschaft und abweichende Realitäten.
Für die Schauspielerin Tolganay Talgat – oder auch Torry – ist kein Platz in Schubladen. Bereits als Kind trägt sie lieber die Klamotten ihres großen Bruders als süße Kleidchen. Für das vierjährige Schauspielstudium an der Kasachischen Nationalakademie der Künste in Almaty wurde sie nicht in die kasachische Gruppe aufgenommen, kam stattdessen in die deutsche. Seitdem spielt sie am Deutschen Theater in Almaty.
Für die mittlerweile 25-Jährige erwies sich das als Glücksfall, denn so lernte sie moderne Theatermacher wie Brecht, Grotowsky und Bausch kennen und lieben. Ihr markantes Aussehen und eigenwilliger Charakter entsprechen nicht dem gängigen Frauenbild der kasachischen Film– und Fernsehwelt.
Die Rollen, die sie interessieren, tun dies aber auch nicht. Ob auf der Bühne oder vor der Kamera – Tolganay Talgat ist ausdrucksstark und macht Eindruck – zuletzt auf die Jury des kasachischen Filmkritikerpreises 2017, die sie für die beste weibliche Nebenrolle nominierte.
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Warum hast du zwei Namen? Torry und Tolganay?
Als ich in die deutsche Gruppe kam, konnte nicht jeder meinen Namen Tolganay aussprechen und da haben sie irgendwie angefangen, mich Torry zu nennen. Seitdem hat sich dieser Name in der Theaterwelt etabliert. Im Kino dagegen kennt man mich als Tolganay. Ehrlich gesagt habe ich da selber keinen Durchblick mehr. Wobei ich prinzipiell versuche, Toganay für meinen Familien– und Freundeskreis, und Torry im Berufsleben zu etablieren.
Du hast dieses Jahr am Berlinale Talents Campus im Rahmen des Filmfestivals Berlinale teilgenommen. Wie kam es dazu?
Ich habe meinen Master in Dokumentarfilm-Regie gemacht und letztes Jahr abgeschlossen. Während des Studiums habe ich eine Regisseurin kennengelernt, mit der ich dann auch mehrmals zusammengearbeitet habe. Sie war bereits selber auf der Berlinale und hat mir geraten, mich für den Talents Campus zu bewerben. Daraufhin habe ich eine Bewerbung geschickt und hatte Glück, dass ich Filme vorweisen konnte, die bereits auf Filmfestivals wie z.B. in Rotterdam gezeigt wurden. Ich wurde als eine von 15 Schauspielern aus aller Welt ausgewählt.
Wie war das?
Großartig! Wir hatten Master Classes, Trainings, Meetings und Seminare mit Regisseuren und Schauspielern. Ich bin nach wie vor dabei, von Berlin runterzukommen. Nach dem Aufenthalt dort ist es sehr schwer, wieder zurückzukehren, weil der Rhythmus des Lebens in Berlin so anders ist.
Von Anfang an hat es mir dort unglaublich gut gefallen und ich hatte das Gefühl, dass es die Stadt ist, in der ich leben möchte. Dieser Gedanke treibt mich seitdem um. Berlin ist so offen – das habe ich bisher an keinem Ort so erlebt.
In Berlin zu sein, zusammen mit all den Künstlern aus aller Welt – hat dich das eingeschüchtert?
Als ich hier am Flughafen saß, hat es mich geschüttelt vor Angst. Es war das erste Mal, dass ich ganz alleine irgendwohin geflogen bin. Ich machte mir Sorgen wegen meinem Englisch und überhaupt dachte ich: Oh mein Gott, da kommen solche krassen Leute hin, solche Stars! Und wie ich dort ankam, war ich sehr überrascht. Alle waren so offen und freundlich.
Hier in Almaty kann man dich am Deutschen Theater spielen sehen. Ihr habt allerdings keine eigene Bühne, sondern mietet euch für Aufführungen die Räume. Wie ist die aktuelle Lage im Theater?
Wenn jemand sehen würde, wie wir arbeiten, er würde glatt einen Schreck kriegen. Wir ziehen uns in minikleinen Räumen um, meist ist es kalt und dreckig. Irgendwie quetschen wir uns zusammen, schminken uns irgendwo auf dem Flur.
Wenn wir spielen, ist es oft kalt, weil die Gebäude oftmals ungeheizt sind. Die Bedingungen sind eigentlich unzumutbar.
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Was motiviert dich, weiterzumachen?
(lacht) Liebe. Wahrscheinlich ist es eine Opferbereitschaft. In erster Linie ist es das, was wir dort machen. Natascha Dubs (Anmerk. D. Red.Leiterin des Deutschen Theaters) ist der einzige Mensch, mit dem ich arbeiten kann, die mich dazu bringt, alles zu geben, weil ich ihr als Künstlerin sehr vertraue.
Manchmal denke ich auch, dass ich jetzt meine Koffer packe und nach Berlin fliege. Obwohl keiner weiß, wie es in Berlin für mich wird. Hier halten mich nur das künstlerische Tun und die Verbundenheit zu meinen Kollegen. Wir sind momentan alle sehr eng zusammen und glauben wie Kinder, dass etwas passieren wird. Immerhin haben wir alle sehr viel Arbeit in die Sache gesteckt, deswegen ist es auch nicht so einfach, jetzt alles hinzuschmeißen und zu gehen.
Wie schätzt du die Theaterlandschaft in Kasachstan ein?
Oh, es gibt ein sehr vielfältiges Angebot. Neben den verschiedenen bereits etablierten Theatern ist es momentan geradezu angesagt, ein Theaterstudio zu eröffnen: Kleine Bühnen irgendwo im Keller oder in der Wohnung. Zugleich ist es natürlich nicht profitabel, sodass diese Studios nicht lange bestehen. Der Wunsch nach dieser Art künstlerischem Schaffen ist groß, nur wissen die Leute, dass es in Kasachstan nicht so leicht ist, damit auf einen grünen Zweig zu kommen.
Denn das Publikum hier ist noch nicht so gewohnt, öfter mal abends ins Theater zu gehen, weshalb es recht mühsam ist, genug Zuschauer für ein Stück zusammenzubekommen. Alles in allem ist es aber großartig, dass in so einer kleinen Stadt wie Almaty so viele Theater existieren.
Theater als Erwachen
Was denkst du, wozu braucht man das Theater?
Ich kann ohne nicht leben. Ich habe es versucht. Schauspielern ist der Sinn meines Lebens. Es ist auch die einzige Möglichkeit der Selbstfindung und Selbstentfaltung für mich. Generell gesprochen ist der Gang ins Theater notwendig. Du lebst dein reales Leben, hast einen Job, hast dies oder das. Das Theater bringt dich aus diesem Trott raus, zeigt dir die Möglichkeit anderer Realitäten.
Es ist für mich jedes Mal wie ein Erwachen. Wenn ich es in einem Wort ausdrücken müsste, wäre es das: Erwachen. Das ist es ja auch eine kulturelle Bildung, die da passiert. Ich denke, ohne das wäre das Leben hier sehr langweilig.
Du spielst in Filmen mit und drehst selber. Gefällt es dir besser vor oder hinter der Kamera?
Das sind zwei vollkommen unterschiedliche Dinge. Hinter der Kamera ist es immer entspannter. Vor der Kamera hat man mehr Angst. Und das schüttet Adrenalin aus. Du bist irgendwie verloren und musst agieren. Es ist ein Auf– und Ab der Gefühle. Vor der Kamera gefällt es mir besser.
Welchen Film würdest du drehen, wenn du könntest?
In den Ländern der GUS gibt es gerade einen Streit um die Sprache des Kinos. Das heißt, dass viele Regisseure keine professionellen Schauspieler haben wollen, weil diese ihnen zu gekünstelt erscheinen. Der Sinn des Films liegt also nicht im Schauspiel. Ich dagegen würde gerade einen Film machen, in dem Schauspieler glänzen. Die Handlung wäre sehr simpel, eine normale Alltagsgeschichte. Der Film „Toni Erdmann“ ist für mich ein großes Beispiel für das, was ich gerne machen würde. Ich liebe diesen Film und was die Schauspieler dort leisten. Und wie fein die Geschichte zwischen Tochter und Vater erzählt wird.
Bist du schon mal an deine persönlichen Grenzen in der Arbeit gekommen?
Für mich sind erotische Szenen schwierig. Meine Familie ist sehr traditionell. In Kasachstan überhaupt gelten strengere Sittenregeln. Für mich persönlich ist es kein Problem, weil ich weiß, dass ich meinen Körper für die Kunst benutze. Diese Situationen sind für mich trotzdem sehr unangenehm. Ich würde dieses Problem gerne lösen, aber weiß noch nicht, wie. Denn du kannst ja nicht alle Leute ändern. Sie werden über dich reden, dich verurteilen. Das möchte ich meiner Familie nicht zumuten. Im westlichen Kino ist es mittlerweile das Normalste der Welt, hier leider noch nicht.
Gibt es Rollen, die dir schwerfallen?
Ja. Ich habe Schwierigkeiten, sehr weibliche und zarte Figuren darzustellen. Ich kann zum Beispiel keine Julia geben. Also, könnte ich schon, aber sie wird anders. Zärtlichkeit gelingt mir einfach nicht, obwohl ich mich sehr bemüht habe. Meine gängigen Rollen sind daher die starken Frauen. Ich habe diesen burschikosen Charakter. Aber ich finde das mittlerweile nicht so schlecht.
Innere Rollenbilder aufbrechen
Hast du also deinen Frieden damit geschlossen?
Während der Berlinale hatten wir ein Coaching bei einem bekannten Lehrer. Diese zwei Tage habe ich nichts verspürt, während alle um mich herum geweint oder sonst wie emotional aufgegangen sind. Mir ging es nicht gut. Nichts war mit mir passiert. Aber er sagte mir, dass alles gut sei und ich bereits genug in mir habe. 25 Jahre bin ich jetzt alt. Und zehn Jahre lang habe ich mich gequält, das klassische Mädchen in mir zu finden. Und jetzt habe ich verstanden, dass ich es nicht zu suchen brauche, sondern die sein kann, die ich bin und damit arbeiten. Darin liegt auch das Aufregende dieses Berufes – dass man immer in den persönlichen Tiefen herumgräbt und auf der Suche nach sich selbst ist…hmm…vielleicht drehen auch deswegen einige Schauspieler durch.
Man muss als Schauspieler auf sich aufpassen.
Ja, absolut. Man muss sich des Lebens erfreuen. Man muss die Grenze erkennen, wo es ungesund wird. Wenn künstlerisches Schaffen und Realität sich vermischen und man sich darin verliert.
Als ich für „Psychose 4.48“ von Sara Kane geprobt habe, gab es zum Beispiel so eine Situation. Mir ging es jedes Mal so schlecht, dass ich das Gefühl für die Realität verlor und manchmal am Steuer saß und Angst bekam, weil ich plötzlich verstand, dass nichts im Leben Sinn macht und ich sterben möchte. Da habe ich schnell das Radio angemacht oder zu Hause den Fernseher und irgendeine dumme Show geschaut, um in die Realität zurückzukehren. Die Grenze zwischen Arbeit und Leben ist sehr wichtig.
Wie läuft es eigentlich bei den Castings für dich? Da du ja nicht den typischen Vorstellungen von Weiblichkeit entsprichst – gibt es da Rollen für dich?
Momentan ist es sehr problematisch mit den Castings in Kasachstan. Zuallererst gibt es hier keine ‚normalen’ Castings. Du kommst, man stellt dich vor die Kamera und sagt: „Lächeln! Traurig! Böse!“ Das ist alles. Vielleicht noch ein Gedicht oder einen Monolog aufsagen. Das geht superschnell und meistens sind das keine Regisseure, sondern Kameramänner. Danach fühlt man sich einfach nur mies – weil dir nichts gelungen ist, und das stresst einfach nur.
Hinzukommt, dass es in Kasachstan wenige Frauenrollen gibt. Männerrollen sind nun mal die Hauptrollen. Es sind immer Männer und betont weibliche Frauen sind die Begleitung des Mannes. Starke Frauenrollen gibt es sehr selten. Ich bekomme während der Castings oft zu hören, dass ich nicht schön genug bin, nicht das passende Gesicht habe und so weiter. Diese Instagram-Gesichter werden bevorzugt. Zuletzt habe ich aber das Glück gehabt, die Hauptrolle in einem Film spielen zu können. Das war super – aber leider noch viel zu
selten.
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Du warst als beste Nebendarstellerin im Film „The Plague at the Karatas Village“ für den Preis der Kritiker dieses Jahr nominiert, bist allerdings leer ausgegangen. Hat dich das sehr enttäuscht?
Nein. Mir war schon vorher klar, dass ich keinen Preis bekommen werde, weil ich die Filme der anderen Nominierten gesehen habe, welche einfach stärker waren als meine Rolle.
Ich bewerte meine Arbeit eigentlich immer adäquat.
Ich freue mich aber, dass der Film, für den ich nominiert war, dafür in der Kategorie ‚Bester Film’ ausgezeichnet wurde. Das ist bereits ein großer Erfolg. Insbesondere weil es ein kritischer Film ist. Und nach Berlin kann ich schwer enttäuscht sein. Für mich war das bereits eine Bestätigung und ein sehr bedeutsames Ereignis in meinem Leben.
Was sind deine Pläne für die Zukunft?
Ich habe zahlreiche Projekte hier. Es steht ein Castingtermin an und ich möchte diese Rolle unbedingt bekommen. Ansonsten möchte ich einfach weiterhin in meinem Beruf arbeiten, mehr spielen und auch international. Dafür bin ich gerade dabei, mit einem Agenten aus Berlin in Kontakt zu treten.
Viele Erfolg und danke für das Gespräch!