Der Landstreifen an der ukrainischen Westgrenze wäre gern ein eigener Staat, wird aber international nicht anerkannt. Vor 200 Jahren ließen sich dort deutsche Kolonisten nieder. Was ist von ihrem Erbe geblieben?

Baba Lida kämpft mit den Tränen. Sie steht im Garten ihres Hauses, die Oktobersonne lässt ihn in bunten Herbstfarben leuchten. Doch dafür hat die kleine Frau mit dem rosa Kopftuch keinen Blick. Ihre Stimme zittert, als sie erzählt, wie sie mit ihrer Schwester und Mutter nach Kasachstan kam.

„Wir waren Kinder, als sie uns alle genommen und [in die Züge] geschoben haben. Es gab nichts zu Essen; viele sind verhungert. Bis nach Semipalatinsk haben sie uns gebracht. Von dort aus ging es weiter mit Ochsengespannen.“ Drei Tage habe die Fahrt gedauert, bis sie endlich in Nowaja Schulba ankamen.

Von Kasachstan nach Transnistrien

Baba Lida, die ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will, war drei Jahre alt, als sie aus der Ukraine deportiert wurde. Es ist ein Schicksal, das Anfang der 40er Jahre viele Schwarzmeerdeutsche ereilte. Nach dem Überfall Hitlers auf die Sowjetunion standen sie unter Generalverdacht, Kollaborateure zu sein.

Baba Lida ist eine der letzten Angehörigen der deutschen Minderheit in Transnistrien.

Die ersten Jahre in Kasachstan seien schwer gewesen, erzählt Baba Lida. Später lernte sie dort ihren Mann kennen, der ebenfalls Deutscher war. 1965 verließen beide das Steppenland. Die beiden gingen in seinen Heimatort: Karmanowo in Transnistrien.

Karmanowa hieß bis in die 40er ganz schlicht Neudorf und war eine der vielen deutschen Siedlungen in dem schmalen Landstrich am Dnister. Einst lebten hier zehntausende Deutschstämmige. Heute sind es noch etwa 1.400, wie eine Volkszählung 2015 ergab.

Transnistrien: Ein Land, das keines ist

Die Geschichte der sogenannten Transnistriendeutschen zu erzählen, hat sich der Reiseunternehmer Andrej Smolenski zur Aufgabe gemacht. Der Mittdreißiger, blonde Haare, Dreitagebart, hat Deutsch in der Schule und an der Universität gelernt. Seit einigen Jahren bietet er die Tour „Auf den Spuren der deutschen Ansiedler“ an. Die erste Station heißt Glinnoje, ehemals Glücksdorf.

Das Taxi rumpelt über eine kaputte Straße. Links und rechts erstrecken sich Felder mit fruchtbarer Schwarzerde. Am Straßenrand steht der Wagen eines ehemaligen deutschen Bäckereibetriebs und wünscht „Guten Tag“. Eine erste deutsche Spur?

Transnistrien, an der Westgrenze der Ukraine gelegen, wäre gern ein eigenes Land. 1992 hat es sich nach einem kurzen militärischen Konflikt von der Republik Moldau abgespaltet. Völkerrechtlich wird dies jedoch nicht anerkannt. Das hat die transnistrische Regierung allerdings nicht davon abgehalten, eine eigene Währung, eigene Autokennzeichen und Pässe einzuführen. Wer in das Gebiet einreisen will, wird von Grenzbeamten kontrolliert.

Zeugnisse der Vergangenheit

Das Taxi passiert den Ortseingang von Glinnoje und hält vor der Dorfschule. Im Keller wartet ein kleines Museum voll mit Alltagsgegenständen, Kleidung, alten Karten, Dokumenten und der Schulchronik in deutscher Sprache. Die Schulleiterin Ljuba Kalina versucht, soviel wie möglich über das Leben der Transnistriendeutschen zusammenzutragen. Für die Historikerin ist es zu einer Lebensaufgabe geworden. Bald will sie das Museum ausbauen und aus dem Keller herausholen.

„Kürzlich war eine Frau aus München hier, die selbst aus Glückstal stammte“, erzählt Kalina, die selbst nur Russisch spricht. Auf einer Wandtafel, auf der die ehemaligen Bewohner des Ortes und ihre Höfe verzeichnet sind, fand die Frau den eigenen Familiennamen wieder. „Das war ein sehr emotionaler Moment.“

Deutsche Siedler gegen Wehrdienst

Deutsche Kolonisten ließen sich ab 1808 in Transnistrien nieder“, erläutert Reiseleiter Smolenski. Die Siedler seien aus Baden, Württemberg, der Pfalz, dem Elsass und Ungarn gekommen, erklärt er. Zar Alexander I. hatte sie eingeladen, sich in den während der Türkenkriege eroberten Gebieten am Schwarzen Meer niederzulassen. Die Dörfer entwickelten sich gut: Waren in Glückstal 1809 gerade einmal 618 Einwohner registriert, waren es 1890 schon mehr als 3.300 – alles Deutsche. Heute sind die meisten der etwa 1.000 Einwohner Ukrainer, Russen und Moldauer.

Baba Lida hat es gemütlich zuhause.

„1871 wurden die Sonderrechte für deutsche Siedler aufgehoben“, erklärt Kalina. „Dann hätten sie auch Wehrdienst leisten müssen.“ Das wollten die meist religiösen Siedler aber nicht. Viele verließen das Zarenreich daraufhin in Richtung Amerika. Aus Glückstal gingen die meisten in die US-Bundesstaaten North Dakota und Kansas.

Vergessene Geschichte

Den größten Einschnitt in das deutsche Leben gab es Ende der 1930er Jahre, als auch in Transnistrien die Deportationen nach Sibirien und Zentralasien begannen. Doch obwohl die meisten Deutschen in der Sowjetunion nur aufgrund ihrer Herkunft betroffen waren, gibt es gerade in Transnistrien noch eine andere, oft vergessene Seite der Geschichte. Tatsächlich haben die Bewohner der deutschen Dörfer während der Besatzung mit den Nazis zusammengearbeitet. Sie dienten nicht nur dem Plan, das Gebiet zu germanisieren, sondern beteiligten sich auch am Holocaust. Manche Quellen sprechen von mehr als 50.000 Opfern.

In Glinnoje erinnert außer einem Gedenkstein heute nur noch wenig an das frühere deutsche Erbe. Die Kirche wurde zu Zeiten der Sowjetunion in ein Kulturhaus umfunktioniert. Smolenski zeigt den Besuchern noch ein Haus, „das vor 200 Jahren nach deutschen Technologien gebaut wurde“. Deswegen sei es besonders stabil und stehe immer noch. Das bemerkenswerteste an dem Gebäude ist allerdings das Dach. Es hat rot, gelb und grün glasierte Ziegel – eine Besonderheit in der Gegend.

Schwäbisch schwätzen

Nach einer kurzen Autofahrt erscheint das Ortseingangsschild von Karmanowo. Im Tourprogramm steht: Gespräch im schwäbischen Dialekt mit der Dorfbewohnerin bei ihr zu Hause. Gemeint ist Baba Lida. Freudig begrüßt sie die Besucher aus Deutschland und lädt sie ein, ins Haus zu kommen. Doch Smolenski lehnt ab, und lässt sich lieber in den Garten führen. Man merkt, dass die heute 80-Jährige nicht oft Gelegenheit hat, in ihrer Muttersprache zu reden. In ihren süddeutschen Dialekt streut sie immer wieder russische Wörter ein.

Es ist ein einfaches Leben, das sie hier führt. Die Söhne sind schon lange ausgezogen, der Mann mittlerweile verstorben. Gesellschaft leistet ihr vor allem Hund Schurik, der während des Gesprächs im Hintergrund bellt. Das Geld, das die Rentnerin von den transnistrischen Behörden erhält, reicht kaum zum Leben. Umgerechnet sind es etwa 60 Euro. Auch deshalb baut sie trotz ihres Alters noch Obst und Gemüse an und hält sich eine Ziege, die frische Milch gibt. Bis vor kurzem die Fässer geklaut wurden, stellte Baba Lida noch selbst Wein her. Jeden Abend betet sie zu Gott. Das Vaterunser spricht sie auf Deutsch, wie sie eindrucksvoll beweist.

Baba Lida will nicht weg aus Transnistrien

Ob sie nie den Wunsch hatte, nach Deutschland – in die Heimat ihrer Vorfahren – zu gehen? Doch, antwortet Baba Lida. In den 1990er Jahren ging sie nach Kassel. Doch dort habe es ihr nicht gefallen, sagt sie. „Hier bei uns grüßen sich die Leute auf der Straße. Dort waren alle so unfreundlich.“

Zum Abschied lädt sie die Besucher noch einmal dazu ein, ins Haus zu kommen. Auf dem Fußboden trocknen Walnüsse. Sie kramt aus einer Ecke einen Stoffsack und packt fast ein halbes Kilo für die Gäste ein. Smolenski drückt ihr ein paar transnistrische Rubel in die Hand. Dann geht es zurück in die Hauptstadt Tiraspol. Baba Lida winkt dem Auto noch lange nach.

Othmara Glas

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