Sabit (18) sagt, ihm gefalle es hier nicht, und er möchte nach Europa. Am liebsten Schauspieler werden in Frankreich, obwohl er internationale Beziehungen studiert. Er trägt auf dem Kopf eine orange Sonnenbrille, ansonsten nur schwarze Klamotten. Wir sitzen auf einer Bank im Innenhof der KIMEP-Universität in Almaty. Durch die Sonne ist der kalte Herbsttag sehr angenehm. „Die Mentalität hier ist wie in den 90ern“, erzählt Sabit weiter. „Ich war mal in Israel, da waren die Leute ganz anders. Seitdem möchte ich weg von hier.“
Weg aus Kasachstan. Woanders studieren. Woanders das Glück suchen. Mit diesem Wunsch ist Sabit nicht alleine. Es gibt eine Menge junger Menschen, die ihr Land verlassen wollen, denn sie sehen hier keine Perspektive. Laut der Studie „Youth of Central Asia – Kazakhstan“ der Friedrich-Ebert-Stiftung wollen ganze 48 Prozent im Ausland studieren, vorzugsweise in den USA oder in Europa, während nur 17 Prozent angaben, in Kasachstan studieren zu wollen. Wie viele von den Studenten*innen jemals zurückkommen werden, ist fraglich. 120.417 qualifizierte Fachkräfte verließen im Zeitraum von 2003 bis 2015 das Land, nur 72.484 kamen nach Kasachstan. Dem Land droht der „Brain Drain“, wie auch Kasachstans ehemaliger Premierminister Karim Massimow schon 2014 anerkannt hat. Doch wo sehen Schüler und Studenten in Almaty ihre Zukunft, wenn nicht in Kasachstan? Was müsste sich ändern, damit sie bleiben?
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Sprache als Ausweg
Das 18. Gymnasium ist eine DSD-Schule, das heißt die Schüler lernen von der ersten Klasse an Deutsch. Die Schule ist ein alter Sowjetbau und benötigt dringend Renovierungen. Seit einem Jahr sind diese schon geplant, doch werden sie immer wieder aufgeschoben, denn es fehlt an Geld. Die Schüler der 11. Klasse haben bald die DSD-II-Prüfung. Mit diesem Sprachzertifikat können sie an jeder deutschen Universität studieren – und das wollen alle. Mit einer Ausnahme: Daniil (17) scherzt, er möchte nach Russland gehen und dort Präsident werden. Dann meint er es ernst: „Ich möchte nicht in Kasachstan bleiben. Es ist ein schönes Land, aber nicht für mich.” Seine Klassenkameraden planen in Deutschland Jura, Medizin oder Internationale Beziehungen zu studieren, denn dort seien die Universitäten besser. Sie wollen auch dort arbeiten, weil es bessere Job- und Gehaltsperspektiven gebe und die Menschen offener, toleranter seien und globaler denken.
Die Schüler der 18. Schule sind kein Einzelfall; nicht nur sie nutzen die Sprache als Sprungbrett zum Verlassen des Landes. In der Mensa der Fakultät für Philologie und mehrsprachiger Bildung der Abai-Universität sitzt eine Gruppe von zukünftigen Lehrern. Der Duft von Essen hängt im Kellergewölbe. Heute gibt es Reis und Hähnchen oder auch Koteletts. Dauren (27) spreche für sich und seine Kollegen, wenn er sagt, dass sie die Sprachen Englisch, Französisch oder Deutsch nur lernen, um dann ins Ausland zu gehen. Er möchte Fremdsprachenlehrer im Ausland werden oder Kellner, Hauptsache raus aus Kasachstan. Hier sind die Gehälter zu niedrig, Lehrer werden nicht wertgeschätzt.
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Der Wille zur Veränderung
Nura (23) denkt anders als Dauren. Sie sitzt in einem spärlich eingerichteten Klassenzimmer. Es ist winzig, vielleicht zehn Quadratmeter. Ein paar alte Tische und Stühle, eine beschriebene Tafel. Nura fängt an zu erzählen, dass sie nicht wie ihre Kolleginnen im Ausland arbeiten, sondern in Kasachstan Lehrerin werden möchte. Durch ihr Masterstudium in Europa hat sie gute Voraussetzungen, und sie ist fest entschlossen, etwas zu verändern. Am liebsten die ganze Bildungspolitik.
So wie Nura denkt auch Dayana (20). Die Studentin an der KIMEP-Universität wird bald in den Niederlanden studieren. Wenn sie zurückkommt, möchte sie ihr in Europa erlerntes Wissen in Kasachstan anwenden und zur Entwicklung des sozialen Unternehmertums beitragen. Ihr Kommilitone Dastan ist ebenfalls entschlossen, zum Fortschritt seines Landes beizutragen, aber er möchte zum Studieren hierbleiben. „Hilfe“ aus dem Ausland lehne er ab. Allerdings müssen die Politiker besser mit der Bevölkerung kommunizieren, wie sie denken und fühlen, um zu wissen, was getan werden muss.
„Zusammen bauen wir ein starkes Land auf”, sagte Präsident Nasarbajew auf dem Nationalforum „Youth is for strong Kazakhstan” und erwähnte noch, dass sich das Budget für Bildung verdoppelt habe. Aber es reicht nicht, einfach mehr Geld für die Bildung auszugeben. Das Land hat andere grundlegende Probleme, die viele junge Leute dazu veranlassen, ins Ausland zu gehen. Angefangen bei Korruption, Vetternwirtschaft und niedrigen Gehältern. Die Stimmung ist geteilt. Die einen können es nicht abwarten, Kasachstan zu verlassen, die anderen sind entschlossen zu bleiben, denn sie sind stolz auf ihr Land und wollen es mitaufbauen. Was kommt, ist noch ungewiss. Fest steht, dass mehr dafür getan werden muss, das Land für die nächste Generation attraktiver zu machen. „Die Zukunft Kasachstans liegt in den Händen der jungen Leute“ hält Aiyaulym (18) fest.
Der Artikel entstand im Rahmen der XII. Zentralasiatischen Medienwerkstatt 2018.