Artur Hörmann ist einer der Redakteure der ersten Stunde. In der DAZ erinnert sich der Rentner an die Arbeit in der Redaktion der Zeitung, die damals noch „Freundschaft“ hieß. Denunziationen mussten damals befürchtet werden, in der Redaktion wurde vowiegend Russisch gesprochen.

Wie gewöhnlich, wenn ich es vorhabe, etwas zu Papier zu bringen, liege ich wach, und die Gedanken führen mir unwillkürlich vor Augen, was das Gedächtnis schon längst aufgegeben hat – so unwiderruflich weit, weniger zeitlich als politisch, liegen jene Ereignisse in der Vergangenheit.

Ich kam in die Redaktion der „Freundschaft” 1974. Ich empfand ein sonderbares Gefühl: Zum ersten Mal seit meinen Jugendjahren befand ich mich unter Deutschen, und meine Euphorie packte mich derart, dass ich zuweilen vergaß, in was für einer Zeit und Atmosphäre meine neuen Kollegen arbeiteten. Es war eine Atmosphäre des Druckes, der ständigen Kontrolle, der Zensur und auch der Zuträgerei.

Es sei bemerkt, dass wir damals vorwiegend russisch miteinander sprachen, obwohl die meisten Mitarbeiter die deutsche Sprache beherrschten. Darin äußerte sich immer noch das Tabu der Kriegs- und der ersten Nachkriegsjahre. Erst in den achtziger Jahren kehrte die deutsche Sprache in der Redaktion auch als Umgangssprache ein.

Die politischen Umstände im Land zeigen sich an folgendem Vorfall:

1979 wurde Zulfikar Ali Bhutto durch einen Staatsstreich Ministerpräsident und Präsident von Pakistan. Er hatte vor, das Land zu demokratisieren, so weit es möglich war. Er wandte sich mit einem Aufruf an alle Landsleute, die das Land unter dem reaktionären Regime seines Vorgängers verlassen hatten, in die Heimat zurückzukehren und an ihrer Umgestaltung teilzunehmen. Der Aufruf fand Widerhall in der ganzen Welt.

Im selben Jahr kam eine pakistanische Konzertgruppe, aus solchen Heimkehrern bestehend, nach Zelinograd und gab einige Konzerte im Palast „Zelinnik”. Ich arbeitete in der Abteilung Kultur und wurde beauftragt, über das Ensemble zu schreiben.

Bevor ich mit dem Leiter sprechen konnte, musste ich die Erlaubnis dazu von zwei Begleitern aus Moskau erwirken. Sie waren gleichzeitig Dolmetscher und KGB-Agenten.

Und nun kam es zu einer widersinnigen Situation: Ich stellte meine Fragen auf Englisch, aber der KGB-Agent hielt es für nötig, sie ins Englische zu „übersetzen”, d. h. sie zu wiederholen. Auch die Antworten übersetzte er ins Russische, obwohl ich sie gut verstand, wobei er sich zwischen mich und meinen Interviewpartner stellte und ihn verdeckte, so dass ich immer wieder den Hals strecken musste, um mein Gegenüber zu sehen.

Chefredakteur für politische Ausrichtung des Blattes verantwortlich

„Ach, lass sie doch reden”, hielt der zweite Begleiter den Unsinn nicht länger aus.
„Er (also ich) vertritt ein spezielles Blatt, und ich habe meine Anweisungen.”
Wir waren also keine gewöhnliche Zeitung, sondern ein „spezielles Blatt“, und da musste geschnüffelt werden, von außen und von innen.

Als ich mich im neuen Kollektiv ein wenig zurechtgefunden hatte, begann ich auch die einzelnen Gesichter meiner Kollegen von einander zu unterscheiden. Kraft seines Amtes musste der Chefredakteur Alexej Debolski für die politische Ausrichtung der Zeitung sorgen, ob diese nun mit seinen eigenen Ansichten übereinstimmte oder nicht.

In den 70er Jahren kam es in Karaganda und anderen Städten Kasachstans zu Demonstrationen von Deutschen, die forderten, entweder die Republik an der Wolga wiederherzustellen, d. h. die Deutschen politisch vollkommen zu rehabilitieren und ihnen die gleichen Rechte wie allen anderen Völkern des Landes zu gewähren, oder sie in die Bundesrepublik Deutschland auswandern zu lassen.

Gewöhnlich wurden solche Kundgebungen brutal gesprengt: Busse oder LKWs wurden einfach in die Masse eingekeilt, ohne auf mögliche Unfälle Rücksicht zu nehmen, die Leute wurden auseinander gerissen, und es gab auch Verhaftungen.

Während einer Dienstreise nach Karaganda traf ich meinen ehemaligen Studenten Adolf Schneider, der mir erzählte, wie der KGB vorging, um, wie er sich ausdrückte, „Vietnam mit den Händen von Vietnamesen” zu bekämpfen. Es wurden etwa zwanzig deutsche Burschen zusammengetrommelt und über Nacht in einem speziellen Raum gehalten. Am Morgen sollten sie eine anberaumte Demonstration sprengen. „Wir wollten aber keine Streikbrecher sein und verdufteten unmerklich einer nach dem andern”, erzählte mir der Student.

„Was soll dieser Stuß?“

Darüber berichtete ich einem guten Bekannten, dem Lehrer der Polytechnischen Hochschule Herdt, der sich beeilte, mich sofort zu verpfeifen, zwar nicht beim KGB, sondern bei meinem Chef – er schrieb ihm einen ausführlichen Brief.

Der „Freundschaft“-Chefredakteur Debolski unterzog mich einem strengen Verhör, feuerte mich jedoch nicht.

Ein anderes Mal schrieb ich von der Völkerfreundschaft in der UdSSR und lobte sie mit hohen Tönen (was ich übrigens öfters absichtlich tat). Ich schrieb, dass alle Völker, große und kleine, die Möglichkeit hätten, ihre nationalen Kulturen zu pflegen und zu fördern – ich zielte damit genau auf die Deutschen ab, die dieser Rechte beraubt waren.

Debolski rief mich in sein Büro, legte meinen abgetippten Aufsatz auf den Tisch: „Was soll dieser Stuß? Sie wissen doch nur zu gut, dass das nicht stimmt! Ich verstehe Sie gut, Ihre Absicht ist all zu transparent: Sie wollen den Leser zu entgegengesetzten Schlüssen provozieren. Lassen Sie das in Zukunft, ich warne Sie. Außer uns beiden gibt es noch andere kluge Leute, die zwischen den Zeilen zu lesen verstehen.”

Leo Weidmann, der Debolski im Amt ablöste, suchte und fand auch immer wieder den „Skorpion” in meinen Materialien – eine Anspielung auf das Gleichnis vom Frosch und dem Skorpion, der den Frosch tödlich stach, als dieser ihn schwimmend über den Fluss transportieren sollte und nun zusammen mit ihm zugrunde ging.

Ich hatte darüber geschrieben, wie man in der Sowchose Temirtauski mit Rindern umgeht, die an Maul- und Klauenseuche erkrankt waren. Das Material ging in den Papierkorb. In der Sowjetunion gebe es keine Maul- und Klauenseuche. Ich hatte über den Direktor eines vortrefflich organisierten Internats geschrieben, in dem tuberkulosekranke Kinder erzogen und behandelt wurden. Das Material landete ebenfalls im Korb. In der Sowjetunion gäbe es keine tuberkulosekranken Kinder, das sei das Los der Kinder in unterentwickelten kapitalistischen Ländern. Sogar der „ramponierte” LKW, den ein von mir beschriebener Brigadier fuhr, wurde gestrichen. Wir trugen gleichsam Scheuklappen. Wir durften nur sehen, was erlaubt oder überhaupt nicht vorhanden war, wie z.B. der „sozialistische Wettbewerb“. Und allmählich entwickelten wir unsere eigene, innere Zensur.

Alle Abteilungsleiter waren Kommunisten, Parteilose durften keine Abteilung leiten. Meist waren es solche Kommunisten, die ihre Parteimitgliedsbücher bei der ersten Gelegenheit loswerden wollten. Es gab aber auch solche, die Kommunisten aus Überzeugung geworden waren und sich verpflichtet fühlten, nach dem Rechten zu sehen.

Heinrich (Andrej Andrejewitsch) Heinz betonte immer wieder, er sei ein Zögling der Partei und würde ihr bis ans Ende treu bleiben. Das war er dann auch. In seinen Überzeugungen war Heinz ehrlich, und ich kann über ihn nichts Abwertendes berichten. Er äußerte seine Meinung offen und war nicht hinterhältig.

Alexander Korbmacher las jede Nummer der Zeitung von A bis Z, schrieb alle Flüchtigkeitsfehler und besonders politische Ausrutscher – wie es ihm schien – heraus und trat dann mit einer „entlarvenden” Rede in einer offenen Parteiversammlung auf. Und niemand wagte, ihn zu unterbrechen, obwohl er allen auf die Nerven ging – er sprach im Namen der Partei.

Einen Beliebigen von uns ans Messer liefern

Alexander Hasselbach hatte weder Straflager noch Trudarmee erleben müssen, was für einen deutschen Intellektuellen schon verdächtig genug war: Jeder rechtschaffene Deutsche musste das eine oder das andere erlebt haben oder beides. Außerdem schrieb mir 1989 Albert Schütz, mein ehemaliger Mitstudent aus Saratow, Hasselbach, damals ein Komsomolaktivist, habe sich 1938 in Marxstadt öffentlich damit gebrüstet, 60 Volksfeinde „entlarvt” zu haben. Sein Kamerad, dessen Name mir entfallen ist, hatte ihn überboten: Die Zahl seiner Opfer betrug 90. Solche Aktivisten brauchte man im Hinterland! Sie kannten keine Skrupel.

Alfred Funk aus der Abteilung Wirtschaft prahlte, besonders wenn er sich mal einen hinter die Binde gegossen hatte, damit, er könne einen Beliebigen von uns ans Messer liefern. Er machte keinen Hehl daraus, dass er mit dem KGB auf du und du stand.

Das war der geringere Teil der Redaktion. In bester Erinnerung sind mir dagegen solche ehemaligen Kollegen geblieben wie Jakob Friesen, der zehn Jahre grausamer Haft hinter sich hatte, Kornelius Neufeld, Eugen Warkentin, Theodor Schulz, heute Redakteur des „Ost-West-Panoramas“, Adam Wotschel, Helmut Heidebrecht, Hedwig Kuhn, Heinrich Ediger, Eugen Hildebrand und noch andere, deren Namen mir bereits entfallen sind. Ob Kommunisten oder Parteilose, sie waren vor allem Menschen und bemühten sich, das deutsche Wort zu pflegen und unter die Leute zu bringen – darin besteht die Hauptrolle der Zeitung. Sie signalisierte – trotz aller Bemühungen der kommunistischen Führung des Landes, die Deutschen totzuschweigen, sie in der Rubrik, „und andere” unterzubringen und zu assimilieren, dass die Deutschen da sind, dass ihre Sprache lebt.

Von Artur Hörmann

29/12/06 – 05/01/07

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