Vielleicht schon in der kalten Steinzeithöhle und im bequemen Sessel der Barockzeit lauschten die Menschen den Märchen und versuchen sich wie deren Helden zu verhalten. Aber die Zeit schreitet fort, und der neue, computerisierte Mensch blickt mit anderen Augen auf die Welt und damit auch auf die Märchen.
/Bild Kristina Ogonjanz. ‚Die Prinzessin von heute verlässt sich nicht auf den Prinzen, sondern regelt ihre Angelegenheiten selbst.’/
Märchen gab es wohl schon immer – mit bösen, guten, glücklichen und unglücklichen Figuren. Von Kindheit an begleiten sie uns als Produkte der Volkskunst, zunehmend aber auch als Kreationen professioneller Autoren und Filmemacher oder von als von ihnen variierte Versionen einst traditionell überlieferter Märchen.
Achtet die Rechte des Drachen
Heutige Dornröschen, Schneewittchen und Aschenputtel warten nicht auf Ihre Prinzen, sondern versuchen, sich selbst zu retten. In dem vor kurzem gedrehten Zeichentrickfilm „Cinderellas Story“ ist es nicht ein Prinz, sondern Aschenputtel mit ihrem Freund Rick, die die Welt retten. Und was ist aus den Prinzen geworden? Sie sehen gar nicht mehr so traditionell aus.
Erinnern wir uns an den populärsten computeranimierten Film der letzten Zeit „Shrek“. Der Prinz „Charmant“, der eigentlich der Gute sein soll, ist hier der Böse. Und wo ist der Held mit dem Schwert, der die schöne Prinzessin rettet? Den gibt es eigentlich gar nicht. Oder? Doch, es gibt ihn: Der Riese mit dem Namen „Shrek“ ist eigentlich der wahre Held dieses Films. Aber nicht nur das europäische Märchen ist im Wandel begriffen. Auch die russische Märchenwelt durchlebt Metamorphosen. In der traditionellen Interpretation ist „Smej Gorynytsch“ ein kluger Drache mit drei Köpfen, der jeden frisst. Neuerdings ist er ein Opfer ungerechter Behandlung. Seine Rechte sind durch die Menschenrechtedeklaration geschützt. Jeder hat das Recht auf Leben. Märchen-Logik.
„In den Märchen sollte es mehr Realität geben“, sagt die 20-jährige Kamilla. „Ich wünsche mir mehr Märchen ohne glücklichen Ausgang.“ Jetztmenschen, besonders Jugendliche, glauben nicht mehr an das klassische Happy End. Und sie ziehen Handeln dem Warten auf Wunder vor. „Wenn ich Aschenputtel wäre, würde ich die Stiefmutter vergiften und die Schwestern hinausjagen“, meint lachend eine 18-jährige Studentin. Aber wahrscheinlich ist hier Vorsicht vor Verallgemeinerung geboten. Viele Leute sind sehr konservativ in dieser Frage. Für sie bleibt böse böse und gut gut. Von zehn Befragten verschiedenen Alters sagen sechs, dass sie traditionelle Märchen mögen. Und was sehr interessant ist: Es handelt sich bei ihnen vor allem um Männer. Sie heißen die Handlungen der Märchenhelden gut.“Ich bin kein Freund moderner Märchen“, sagt der 34-jährige Mechaniker Wladislaw. „Ich verstehe die Leute nicht, die diese Märchen machen.“
Potter trifft den Nerv
Seit im Jahre 1997 der erste Band von „Harry Potter“ veröffentlich wurde, gibt es Streit um die Natur dieses Werkes. Viele Leute, die zur enormen Fangemeinde des kindlichen, bebrillten Magiers gehören, sagen, dass „Harry Potter“ etwas mehr sei als ein Märchen. Es gibt etwas in diesem Buch, das mit dem berühmten englischen Märchen „Peter Pan“ in Verbindung zu stehen scheint. Es ist eine spezielle Atmosphäre der Wunder und der Magie, die besonders im ersten Band fühlbar ist. Die Helden kämpfen auch hier gegen Böses. Und es sind alle Attribute der Märchenwelt vorhanden, wie zum Beispiel Zauberstock und Fee. Möglicherweise gibt es hier zu viel Mord und Totschlag und Szenen aus dem alltäglichen Leben, um dieses Buch ein reines Märchen nennen zu können. Aber vielleicht sind es ja gerade solche Märchen mit viel Realität, ungewöhnlichen Helden und ohne Happy End, nach denen der Mensch des 21. Jahrhunderts verlangt?
Von Kristina Ogonjanz
23/01/09