Die neue Studie „Chancenspiegel“ macht es möglich, die Chancengleichheit in den Schulsystemen Deutschlands zu beurteilen. Sie führte zu dem Ergebnis, dass sich die Chancen von Schülern, soziale Nachteile zu überwinden und ihr Leistungspotenzial auszuschöpfen, von Bundesland zu Bundesland deutlich unterscheiden. Es ist nicht die erste Studie, die sich mit diesem Thema befasst, doch beweist sie wieder einmal, wie groß die Abhängigkeit zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg an deutschen Schulen ist.

In Deutschland lässt sich die Wahrscheinlichkeit, ob ein Kind studieren wird, am Bildungsstand der Eltern ablesen. Das Besondere an der neuen Studie ist, dass sie einen direkten Vergleich zwischen den Bundesländern zulässt und sich unter Rückgriff auf vorliegende statistische Daten vorgenommen hat, den abstrakten Begriff „Chancengleichheit“ zu messen. Außerdem soll die Studie, die von der Bertelsmann-Stiftung in Auftrag gegeben und am Institut für Schulentwicklungsforschung (IFS) der Technischen Universität Dortmund durchgeführt wurde, mehr Transparenz über die Chancengerechtigkeit in den deutschen Schulsystemen zulassen und als ergänzendes Instrument der Bildungsberichterstattung dienen. Denn diese muss sich mit der komplexen föderalen Bildungspolitik Deutschlands befassen. Nachdem Deutschland im Jahr 2000 schwache Ergebnisse in der PISA-Studie erzielte, wurde das Bildungssystem sogar noch weiter verkompliziert. In der PISA-Studie werden die Schulleistungen der Kinder in den Mitgliedsstaaten der OECD miteinander verglichen. In Deutschland entstand nach dieser Studie eine hohe Zahl verschiedener Schularten und Konzepte, um das deutsche Schulsystem leistungsfähiger zu machen. Zum Beispiel können derzeit allein 70 verschiedene Methoden der Leseförderung differenziert werden.

Chancengerechtigkeit messbar machen

Doch wie kann „Chancengerechtigkeit“ gemessen werden? Hierzu mussten die Forscher einen theoretischen Ansatz entwickeln und Indikatoren festlegen, die über den Grad der Chancengerechtigkeit Auskunft geben. Diese sind zum einen „Integrationskraft“ und „Durchlässigkeit innerhalb der Schulen“, um abzubilden, inwiefern faire Bedingungen in den Schulen bestehen. Die Leistung des Schulsystems, die Schüler auszubilden, maßen die Forscher durch das „Erreichen von Kompetenzen“, wie beispielsweise im Lesen, und anhand von „Zertifikaten“, also erreichten Schulabschlüssen. Ein Schulsystem, das seinen Schülern Chancengerechtigkeit bieten möchte, muss folglich benachteiligte Schüler integrieren, durchlässig für Schüler aus allen Bevölkerungsschichten sein, Kompetenzen vermitteln und Leistungen durch entsprechende Zeugnisse anerkennen. So können nun dank des Chancenspiegels die Schulsysteme der einzelnen Bundesländer direkt verglichen werden. Welches Land hat das integrativste Schulsystem, beugt Klassenwiederholungen und Schulabstiegen vor und gleicht soziale Nachteile der Schüler aus? Erhalten diejenigen wirksame Unterstützung, die schon bei der Einschulung benachteiligt sind?

Kein Bundesland hat faires Schulsystem

Das Ergebnis des Chancenspiegels ist ernüchternd: die Bundesländer bieten den Kindern sehr unterschiedliche Chancen, vom deutschen Bildungssystem zu profitieren und ihre Kompetenzen zu entwickeln. Kein Land kann in allen vier Kategorien Spitzenplätze belegen. Besonders in Bayern, Baden-Württemberg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein werden die Kinder aus der höheren Bevölkerungsschicht besonders stark bevorzugt. Hier bekommen die Kinder aus akademisch gebildetem, reichem Elternhaus trotz gleicher Leistung sechsmal so große Chancen aufs Gymnasium zu gehen wie Arbeiterkinder. In diesen Bundesländern herrscht folglich keine Chancengleichheit. Hier bleiben bildungsferne Schüler laut der Studie über zwei Lernjahre hinter den Kindern aus Familien mit akademischem Hintergrund zurück. Der Chancenspiegel zeigt allerdings auch, dass sich Fairness und Leistungsstärke in Bezug auf das Schulsystem nicht ausschließen müssen. In Sachsen beispielsweise ist das Schulsystem im Vergleich zu anderen Bundesländern eher durchlässig: Die Chancen für Kinder aus wenig gebildetem Elternhaus auf einen Gymnasialbesuch sind relativ gut und nur wenige Schüler bleiben sitzen.

Gesellschaftliche Initiative gegen Chancenungleichheit

Das Ergebnis des Chancenspiegels ist nicht neu. Schon lange wird die fehlende Chancengerechtigkeit für alle Schüler in Deutschland debattiert. Schon bevor die aktuelle Studie Fakten lieferte und einen Ländervergleich zulässt, wurde eine Initiative ins Leben gerufen, um Schülern aus nicht-akademischen Familien zum Studium zu ermutigen sowie auf dem Weg zum erfolgreichen Studienabschluss zu unterstützen: Im Mai 2008 gründete die Gießener Doktorandin Katja Urbatsch gemeinsam mit ihrem Bruder und ihrem Partner sowie zwei Kolleginnen aus ihrem Gießener Graduiertenzentrum das Internetportal „ArbeiterKind.de“. Mittlerweile zählt die gemeinnützige Initiative bundesweit über 4.000 ehrenamtliche Mentorinnen und Mentoren in 80 Ortsgruppen. Die Mentoren führen in ihren jeweiligen Städten unter anderem Informationsveranstaltungen in Schulen und Hochschulen durch und bieten regelmäßige Stammtische und Sprechstunden für Schüler, Studierende und Eltern an. Die Gründerin Katja Urbatsch ist von der großen Resonanz auf ArbeiterKind.de auch nach vier Jahren noch überwältigt: „Ganz besonders freue ich mich darüber, dass es uns gelingt, Schüler, Studierende und Eltern aus finanzschwachen Familien zu erreichen und zu unterstützen.“ Der Chancenspiegel soll in den kommenden Jahren fortgeschrieben werden. Die Probleme sind klar und das gesellschaftliche Engagement ist da: nun müssen auch die Politiker aktiv werden, um durch bildungspolitische Maßnahmen jedem Schüler den gleichen Zugang zu Bildung zu ermöglichen.

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„Der Chancenspiegel versteht unter Chancengerechtigkeit die faire Chance zur freien Teilhabe an der Gesellschaft, die auch gewährleistet wird durch eine gerechte Institution Schule, in der Schülerinnen und Schüler aufgrund ihrer sozialen und natürlichen Merkmale keine zusätzlichen Nachteile erfahren, durch eine Förderung der Befähigung aller und durch eine wechselseitige Anerkennung der an Schule beteiligten Personen.“ (Bertelsmann Stiftung, Institut für Schulentwicklungsforschung (Hrsg.): Chancenspiegel. 2012)

Von Melanie Frank

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