Noch ist der Nationalpark Ile-Alatau ein Eldorado für Ökotourismus – das könnte sich bald ändern.
Piep-piep-piep. Chipkarte voll. Ich stehe fünf Meter vor dem schönsten Murmeltier meines Lebens – und mein Fotoapparat will nicht mehr. Löschen will ich nichts, denn alles, was ich während der letzten Tage aufgenommen habe, ist einfach zu schön, um wahr zu sein. Blumen, Landschaft, meine Ornithologen-Gruppe in Aktion. Zwölf Tage durch Kasachstans Südosten und jetzt hier oben in den Bergen des Nationalparks Ile-Alatau, nur 25 Kilometer vor den Toren der Zweimillionenstadt Almaty, und doch weit weg von Stau, Motorengedröhn und Abgasen.
Ich lasse die Kamera sinken und gucke mir mein Objekt ohne Objektiv an. Wohlgenährt und ohne Scheu guckt das Langschwanzmurmeltier zurück. Es lässt mich noch weitere drei Schritte auf sich zukommen und taucht dann ab in seinen Bau. Zum Abschied scheint sein namensgebender Langschwanz übermütig zu winken. Links von mir kommt ein junges Murmeltier aus dem Bau, nur mit dem Oberkörper, sieht mich und verschwindet wieder. Als ich vorbei bin, drehe ich mich um – und ich habe mich nicht geirrt: Da steht es wieder und guckt mir neugierig hinterher. Unsere Gruppe scheint für die Murmeltierkolonie ein lohnendes Entertainment zu sein, überall gucken jetzt braune „Murmels“ aus ihren Löchern.
Die zwölf „Ornis“, wie ich die Ornitologen nenne, sind jedoch auf ganz andere Erlebnisse aus. Da sind das Purpurhähnchen und der Wacholderkernbeißer, der Sprosserrotschwanz, die Schwarzkehlbraunelle und der Rotstirngirlitz. Alles gefiederte Gesellen, die in Deutschlands Bergen nicht vorkommen. Hier oben, zwischen 2600 und 3350 Metern im mittelasiatischen Tienschan, sind sie zu Hause. Für die kleinen Singvögel braucht man Geduld, einige von ihnen führen ein sehr verborgenes Leben. Erst hört man sie, bestimmt an der Stimme, um wen es sich handeln könnte, und dann versucht man, den Geräuschen folgend, den Verursacher im Wacholdergestrüpp auszumachen. Da! Dieser Vogel mit dem auffällig schönen, schmetternden Gesang ist das Bergrubinkehlchen. Er sitzt jetzt frei auf einem Zweig, von der Abendsonne angestrahlt, und erweist allen anwesenden Fotografen die Ehre. Die Teleobjektive sind auf ihn gerichtet, er ist der Star des Abends.
Größer, aber nicht leichter zu finden ist der Ibisschnabel, ein taubengroßer Vogel mit langem roten, nach unten gebogenen Schnabel, der hinter dem Großen Almaty-See im Flussdelta sein Nest hat. Er trägt ganz bescheiden Mausgrau mit etwas Weiß und Braun, und das macht ihn auf dem gleichgefärbten, vom Fluss rund geschliffenen Geröll schier unsichtbar. Zu sehen ist er eigentlich nur, wenn er fliegt. Wir haben großes Glück, denn als wir suchend am Seeufer stehen, haben sich gerade vier Ibisschnäbel zur Balz zusammengefunden. Alle Vorsicht vergessend, knicksen sie umeinander herum, machen Verbeugungen, spreizen sich und stellen all ihre Vorzüge aus. Liebe macht blind …
Mein Telefon klingelt. Ich bin sauer, hier oben in den Bergen hätte ich keine Störung erwartet. Marat ist dran, einer unserer Fahrer, die vorn am Seeufer in den Minibussen warten. „Guckt mal nach oben“, sagt er knapp, „zwei Schneegeier kreisen über euch“. Sagenhaft, wie er die wieder entdeckt und bestimmt hat, denn meine „Ornis“ mit ihren tollen Ferngläsern und Spektiven sind sich gar nicht so sicher. Die beiden Greife sind weit weg und schlecht von Gänsegeiern zu unterscheiden, aber abends beim Ausfüllen der Beobachtungsliste kommt dann doch mindestens ein Schneegeier mit aufs Papier. Keiner hat ihn wirklich hier erwartet, und er ist ein guter Ausgleich für den uns in der Steppe entgangenen Wermutregenpfeifer.
Hier könnte der geneigte Leser aufstöhnen und denken: „Meine Güte, wie verrückt muss man denn sein, um dem Federvieh solche Bedeutung beizumessen und solche Namen zu geben?!“
Nicht verrückt. Das ist mein Befund nach zwölf Tagen. Es handelt sich um Naturfreunde und Naturschützer aus Deutschland, die hier das suchen und auch finden, was es im dicht besiedelten Mitteleuropa nicht mehr gibt: Naturlandschaften schier ohne Ende, in einer Mannigfaltigkeit, die man sich kaum träumen lässt. Steppe, Halbwüste, Wüste, unbegradigte Flüsse, Auwälder, Berge und Hochgebirge mit alpinen Matten von sensationeller Schönheit, Gletscher und rauschende Tienschanfichten-Bergwälder. In all diesen Lebensräumen, aber auch auf dem hier reichlich vorhandenen Brachland und in den verschiedenen Kulturlandschaften gibt es zahlreiche Tier- und Pflanzenarten, viele davon kennt man in Mitteleuropa nicht. „Meine Ornis“ sind nicht nur hinter Vögeln her, sie freuen sich über Schmetterlinge und Eidechsen, über Blumen, Pferde-, Kamel- und Schafherden sowie schöne Landschaften gleichermaßen. Sie genießen die atemberaubenden Ausblicke in die Canyons und die weittragenden, klagenden Rufe der Himalaya-Königshühner in den Bergen, sie freuen sich über den quirligen Viehmarkt in einem der Dörfer an der Straße und essen im nächsten Dorf mit großem Appetit Lammspieße im Straßencafé. Sie versuchen, sich mit den Schulkindern zu unterhalten, die allen fremdländisch aussehenden Besuchern ihr „Hello, what´s your name?“ entgegenschmettern, und machen sich mit mir zusammen Sorgen um den Nationalpark, der in ein Skigebiet umgewandelt werden soll.
Das ist der Wermutstropfen der Tour. Keiner will es glauben, dass man in Kasachstan bewusst den Verlust eines der schönsten und bedeutendsten Nationalparks des Landes riskiert, um mit 500 (fünfhundert!) Kilometern Abfahrts-Skipisten vermeintliche Heerscharen von chinesischen, japanischen und indischen Touristen ins Land zu holen. Aber diese Pläne gibt es, sie sind sehr konkret und haben eine mächtige Lobby. Die „Verpistung“ des Parks würde das Ende des Paradieses bedeuten, in dem wir uns gerade aufhalten. Die herrlichen Blumenwiesen würden unter Bulldozern verschwinden, die Rufe der Himalaja-Königshühner und das schmetternde Liedchen des Bergrubinkehlchens durch das Brummen der Skilifte ersetzt. Da, wo heute noch Familien ihr Sonntagspicknick halten, würden in drei Jahren die ersten gutbetuchten Skitouristen die planierten Hänge hinunterbrettern.
Almaty hat bereits mehrere Skigebiete, deren Auslastung ist allerdings unbefriedigend. Mit einer Vernetzung der Gebiete mit Shuttlebussen und einem einheitlichen Skipass könnte man mehr Effekt erzielen, als mit blindem Erweiterungswahn.
Vor kurzem hat der NABU dem Präsidenten Kasachstans angeboten, dem Land bei der Nominierung des Nationalparks Ile-Alatau zum Weltnaturerbe zu helfen. Dafür müsste der Park allerdings erhalten bleiben. Ein solcher Schritt würde die Bekanntheit des Parks erhöhen und langfristig mehr Touristen ins Land bringen, Naturfreunde aus aller Welt, die nach ihrer Reise Briefe schreiben wie diesen:
„Noch nie im Leben habe ich eine derartige Vielfalt von Naturlandschaften auf so engem Raum zusammen erlebt. Ich bin immer noch ganz begeistert! Ein Paradies, besonders da oben in den Bergen! Bitte zerstört es nicht! Ich werde allen Freunden und Bekannten davon berichten und ihnen die Fotos zeigen. Ein solches Land hat mehr Touristen verdient!“
Weitere Information: www.kasachstanreisen.de, www.greensalvation.org/en.