Unser Autor ist fasziniert von geographischen Extremen. Oft verbringt er einen Großteil des Tages damit, verträumt auf der Landkarte umherzusuchen. Nach einem Kneipengespräch machte er sich spontan auf den Weg nach Ridder im Osten Kasachstans.

Es ist eine der längsten Automagistralen der Welt: die Europastraße 40. Sie beginnt im französischen Calais und endet in äußersten Ostkasachstan. Nach einem Kneipengespräch an einem Samstagabend im November buchte ich aus einer Bierlaune heraus Zugtickets in genau diese Richtung. Erst später blicke ich auf den Wetterbericht: -23 Grad Celsius. Eine wahre Schnapsidee!

Nun, nicht einmal 24 Stunden, nachdem ich von der E40 gehört hatte, bin ich auf dem Weg nach Ridder, das Ende der Straße. Es hatte bereits den ganzen Tag geschneit, auf den Straßen von Almaty geht nichts mehr. Erst nach mehr als zwei Stunden schaffe ich es, ein Taxi zum Bahnhof zu bekommen. Im Verkehrschaos feststeckend, hoffe ich noch irgendwie insgeheim, dass mein Fahrer es nicht rechtzeitig zum Bahnhof schaffen würde.

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Am Bahnsteig angekommen, sehe ich den Zug schon langsam wegrollen. Als mich jedoch eine Bahnhofsbedienstete erblickt, klopft sie von außen heftig an eine der Waggontüren. Die Tür öffnet sich: Der Zugbegleiter schreit mir hektisch entgegen: „Beeil dich, spring auf, spring auf!“ Erst als ich im Zug stehe, grinst der Prowodnik mich an und streckt mir seine Hand entgegen. Er kontrolliert mein Zugticket und meinen Pass und fragt: „Deutschland?“ „Ja, Deutschland!“ Erst jetzt kann ich auch zurückgrinsen.

Die erste Etappe dieser Reise ist Ust-Kamenogorsk, das heutige Öskemen, die Hauptstadt der Region Ostkasachstan, die an den Altai, Russland und China grenzt. Eine Zugfahrt von 26 Stunden. Mein Abteil ist leer, ich mache es mir gemütlich. Der Zugbegleiter in meinem Waggon, Bauyrschan, kommt gelegentlich vorbei, bietet mir Tee an, und möchte mit mir quatschen. Er stellt mir die üblichen Fragen nach Job, Frau und Kindern sowie dem Gehalt in Deutschland. Gespräche, die ich so gefühlt schon tausendmal in Zügen erlebt habe. Wenigstens er fängt diesmal nicht mit Angela Merkel, Flüchtlingen, BMW oder dem FC Bayern München an. Dafür blicken seine Augen liebevoll durch eine dicke, alte Hornbrille, seine Stimme ist leise und dumpf.

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Mitten in der Nacht reißt mich heftiges Klopfen aus dem Schlaf, neue Fahrgäste kommen in mein Abteil. Ich bin zu müde, um sie zu beachten. Bis zum späten Vormittag geht das noch drei Mal so. Erst dann finden sich meine Reisebegleiter bis nach Öskemen: Artjom, ein dicker alter Mann mit grauen Haaren und in blau-weiß gestreiftem Shirt, und Ruslan, ein Typ mit furchtbar breiten Schultern. Artjom kommt vom Angeln mit seinen Freunden und lobt die Altai-Region und ihre Natur in den höchsten Tönen, erzählt von den schmackhaften Fischen der Region, dem eiskalten, absolut reinen Quellwasser und den kristallklaren Bergseen. Bloß die Fabriken nahe der Stadt stören ihn und die Natur gewaltig. Ruslan trägt ein Shirt mit der Aufschrift „National Kazakh Wrestling Team“. Wie sich herausstellt, ist er tatsächlich Kampfsportler und tritt in internationalen Wettbewerben für Kasachstan an. Erst vor kurzem hat er eine Meisterschaft in Russland gewonnen.

Die Wetterprognosen haben sich bewahrheitet: Je weiter ich mich nordostwärts bewege, desto kälter wird es. Ich habe lange geschlafen, mich kräftig ausgeruht. Den Nachmittag verbringe ich damit, die eisige Landschaft aus dem Zugfenster zu beobachten. Reif hat sich an den Fenstern gebildet, an einigen sind wunderschöne Eisblumen gewachsen. Das Thermometer im Waggon zeigt -16 Grad Celsius Außentemperatur. Noch ein halber Tag Zugfahrt liegt vor mir. Viel Zeit zum Nachdenken oder zum Lesen. Ich gebe Gogols „Toten Seelen“ nochmal eine Chance – ein Buch, das ich vor langer Zeit schon einmal begonnen und dann wieder zur Seite gelegt habe. Während sich Gogol in endlosen und unfassbar banalen Details des russischen Landlebens verliert, geht über der eisigen Steppe die Sonne langsam unter, hier und da ein Häuschen oder eine kleine Bahnstation mit grell-blau bemalten Fenstern. Das ist die wahre Romantik einer solchen Zugreise.

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Es ist weit nach 21.00 Uhr, als ich mein vorläufiges Etappenziel Ust-Kamenogorsk erreiche. Hier werde ich übernachten, bevor ich den letzten Teil dieses kleinen Abenteuers in die Altai-Stadt Ridder, am Ende der Europastraße 40, bestreite.

Ich breche früh zum Busbahnhof auf. Es dämmert, alles um mich herum ist glitzernd weiß gefroren und liegt in einem mystischen, eiskalten Nebel. Es hat 20 Grad Celsius unter Null an diesem Morgen. Ein uralter, klappriger Mercedes-Bus hält an, die Türe öffnet sich, ein Schild liegt vorne im Fenster: „Ridder“. Russische Chansons dröhnen laut aus dem Bus. Auf dem Fahrersitz sitzt ein altes, kleines Männchen, das bereits furchtbar alt gewesen sein muss, als dieser Bus noch ein Neuwagen war. Als wir die Stadt verlassen, ziehen alte Industrieanlagen am Fenster vorbei, aus den Schloten qualmt dicker Rauch senkrecht in die eisige Luft. Schnell sind die Fenster angeschlagen und eine Eisschicht bildet sich, die mir den Blick nach draußen verwehrt. Ich nicke ein.

Als ich aufwache, sehe ich einen dichten, schneeweißen Wald, Hügel ziehen sich sanft um die Landschaft. Hier und da kleine russische Holzhütten, ein alter, verrosteter Kohleschacht in der Ferne. Das ist das Altai-Gebirge. Nach drei Stunden Fahrt erreiche ich Ridder, den Endpunkt der Europastraße 40. Die letzte Etappe von Öskemen aus war eigentlich ein Katzensprung, wenn man bedenkt, dass diese Straße 8.000 Kilo-meter westlich von hier ihren Anfang nimmt. Ich fühle mich, als habe ich wirklich das Ende der Welt erreicht, in jedem Fall aber das Ende Europas in Bezug auf sein Straßennetz.

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Hinter der kleinen Bergbaustadt Ridder geht für mich nichts mehr. Spätestens an der russischen Grenze östlich der Stadt wäre ohne ein russisches Visum Schluss für mich. Ansonsten wirkt das kleine Städtchen recht verschlafen, beinahe romantisch. Knapp mehr als 50.000 Menschen leben hier, mit über 88 Prozent ist der überwiegende Teil von ihnen Russen. Auf den schneebedeckten Straßen ist wenig Verkehr, die niedrigen Häuser aus den 50er Jahren werden eingerahmt von den Altai-Hängen rund um die Stadt. Der Himmel ist wolkenlos, die strahlende Sonne wärmt die Außentemperatur auf immerhin noch Minus 10 Grad. Ein kleiner Markt liegt am Ende der Hauptstraße. Händler verkaufen gefrorenen Fisch, dicke Pelzmützen, selbstgestrickte Wollsocken, auch Kräuter und Tannenzapfen aus den nahen Wäldern werden angeboten. Ich kaufe ein paar Gläser Honig. Der Altai-Honig soll besonders gut sein. Die Verkäuferin freut sich sehr, als sie erfährt, woher ich komme. Sie schickt die allerbesten Grüße nach Deutschland!

Grüße nach Deutschland
Grüße nach Deutschland: Eine Verkäuferin an ihrem Stand in Ridder. | Bild: Autor

Es wird langsam dunkel. Von nun an, wenn die Sonne hinter den Altaibergen verschwindet, sinken auch die Temperaturen wieder minütlich. Ich will mich aufwärmen, gehe in eine Bar am Hauptplatz, direkt gegenüber des stalinistischen Kulturpalastes. Es ist eine billige Kaschemme, eine verrauchte Bierkneipe, ein fürchterlicher Kabak. Drinnen sitzt eine Frau am Tresen und trinkt Kaffee. Sie ist stark geschminkt und raucht kette. Sie erkennt mich an meinem Akzent als Ausländer. Als sie erfährt, dass ich für eine deutsche Zeitung schreibe, fordert sie mich auf, von ihr zu berichten. Olga heißt sie, und fängt an zu schimpfen. Ich solle schreiben, wie fürchterlich die Menschen hier in Ridder leben. Seit vier Tagen haben sie kein Wasser in ihrem Wohnblock, und ein Brot kostet inzwischen mehr als eine Fahrt mit dem Bus, 90 Tenge (etwa 20 Cent, Anm. d. Red.)!

Es ist dunkel geworden, ich muss zurück zum Busbahnhof. Der Bus für die Heimreise wartet schon. Ich kann nur erahnen, wie hart das Leben der lieben Honigverkäuferin, der schimpfenden Olga und der anderen Menschen am Ende der Europastraße 40 wirklich ist. Ich hätte gerne mehr Zeit hier verbracht, aber am Busfenster ziehen bereits die schummrig beleuchteten Straßenzüge der Vororte von Ridder vorbei, bevor der Bus in die Dunkelheit des Altai verschwindet.

Philipp Dippl

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