Auf der Bühne des Deutschen Theaters Temirtau zählte Peter Zacharias zu den Meistern der Verwandlung. Zur Schauspielerei kam er hingegen erst über Umwege.
Die 1980er Jahre in der ehemaligen Sowjetunion… Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, ist in meiner Erinnerung vor allem das Deutsche Schauspieltheater Temirtau lebendig. Vielleicht, weil es etwas Neues, Ungewöhnliches war. Das Theater und seine einzigartige Bühnenwelt faszinierten mich schon immer. Und das Deutsche Theater ganz besonders, wo doch junge Deutsche wie ich Stücke in meiner Muttersprache aufführten – und ich, keineswegs ein sentimentaler Mensch, das Geschehen auf der Bühne stets mit Tränen in den Augen verfolgte.
Einige Bühnenstücke konnte ich in Temirtau anschauen. Aber vor allem wenn das Theater auf Tournee in der Altairegion war, reisten wir ihm nach und verfolgten das gesamte mitgebrachte Repertoire.
Ein Abend ist mir ganz besonders in Erinnerung geblieben. Es wurde Ostrowskis „Eine Dummheit macht auch der Gescheiteste“ gespielt. Der Hauptheld des Klassikers stand, sich auf einen Gehstock stützend, mitten auf der Bühne und sprach seinen Monolog. Mich beeindruckte weniger, was und wie er sprach, sondern seine Hände. Die Hände eines alten Mannes, obwohl ich wusste, dass die Rolle ein junger Mann spielte. Allein schon durch diese ausdrucksvollen Hände vermochte der Schauspieler seine Figur authentisch und glaubwürdig darzustellen. Die Kraft der Verwandlung, die Kraft der Kunst schwebte buchstäblich in der Luft. Der Schauspieler, der mich damals so beeindruckte, war Peter Zacharias.
„Du bist mein Deutscher!“
Er wurde in Kirgisistan geboren, dort schloss er 1975 die Mittelschule ab und träumte davon, Hydromeliorator (Hydromelioration – Bodenverbesserung durch Bewässerung) zu werden – damals ein in der Gegend ziemlich begehrter Beruf. Bei den Aufnahmeprüfungen hatte er Pech, die Punktezahl reichte nicht aus. Also musste Peter in sein Heimatdort zurück und sich nach einem geeigneten Job umsehen.
Und wie es der Zufall so will, begegnete er seiner ehemaligen Klassenkameradin Katharina Rissling, die mit ihrem Traumberuf auch nicht viel weiter kam. Auf dem Rückweg nach Hause hatte sie einen Abstecher zu ihren Verwandten in Alma-Ata gemacht, die ihr erzählten, dass in der Hauptstadt gerade Aufnahmeprüfungen für ein deutsches Studio an der Schtschepkin-Theaterschule in Moskau liefen. Katharina ließ sich die Chance nicht entgehen und wurde aufgenommen.
Ihr Rat war, auch Peter sollte es probieren, im August würden Aufnahmeprüfungen in Karaganda stattfinden. In der Kulturabteilung von Karaganda wurde Peter Zacharias mit offenen Armen empfangen. Wie er später erfuhr, hatte jeder Mitarbeiter den Auftrag, je drei Deutsche für die Prüfungen bereitzustellen. Deswegen hatte ihn eine der Mitarbeiterinnen sofort in Beschlag genommen nach dem Motto: „Du bist mein Deutscher!“
Dauerhafte Glückssträhne
Zu den Prüfungen traten 18 Bewerber an, nur acht wurden ausgewählt, darunter auch Peter. Jeder der Glücklichen bekam eine Bescheinigung, die besagte, dass er die Prüfungen bestanden und am 1. Oktober zum Studium in Moskau zu erscheinen hätte. Peters Eltern betrachteten das Papier mit großer Skepsis und schüttelten darüber nur den Kopf. Gegen die Reise und ein Studium in der Hauptstadt hatten sie aber letztlich nichts einzuwenden – allerdings mit dem Vorbehalt, dass er sofort nach Hause kommen solle, wenn sich alles als Täuschung herausstellte. Für den Fall der Fälle bekam Peter sogar Rückreisegeld zugesteckt.
In den Porträts der Schauspieler ist immer wieder zu lesen, wie schwer sie es in den ersten Tagen und Monaten in Moskau hatten. Peter dagegen hatte von Anfang an eine Glückssträhne, die sich als dauerhaft erwies. Am Bahnhof traf er auf einen Taxifahrer, der ihn bis zur Theaterschule brachte. Dort wurde er von M.M. Nowochischin, dem Rektor und künstlerischen Leiter des Deutschen Studios, empfangen, der gleich noch das Taxi bezahlte und den Neuangekommenen in das Studentenwohnheim der Theaterschule weiterleitete. So begann für Peter das Leben in Moskau.
Bis die anderen Studenten eintrudelten, schrieb man bereits den 10. Oktober 1975. Außer intensivem Deutschunterricht standen vor allem Fächer der Schauspielkunst im Mittelpunkt. Immerhin sollten aus den deutschen Mädchen und Jungs, zumeist aus der kasachischen Provinz, von denen einige höchstens mal auf der Schulbühne gestanden hatten, Berufsschauspieler geformt werden.
Schwierigkeiten bei der Auslese
Alle legten viel Fleiß und Lernbereitschaft an den Tag und gaben stets ihr Bestes, aber schon nach dem ersten Studienjahr waren von den ursprünglich 26 Studenten nur noch 16 geblieben – zu wenig für ein Theaterteam, das ein neues Theater aufzubauen hatte. Einige wurden, weil ohne Schauspieltalent, exmatrikuliert, andere hatten erhebliche Sprachschwierigkeiten, und wieder andere verließen aus verschiedenen Gründen Moskau freiwillig. Um das Theaterteam zu vergrößern, wurden weitere Studierende aufgenommen, diesmal aus der Altairegion und dem Gebiet Omsk.
Die Studienjahre verflogen wie im Nu. Die zukünftigen Schauspieler verfügten nun über umfangreiches schauspielerisches Können. Auch die ersten Eheschließungen ließen nicht auf sich warten. 1979 heiratete Peter Zacharias Katharina Schmeer, eine Studentin der gleichen Gruppe, im Jahr darauf freuten sie sich über den Sohn Artur. 1980 landete das Theaterteam mit den zuvor bestandenen Diplomaufführungen, „Emilia Galotti“, „Die Schneekönigin“ und „Die Ersten“, im Repertoire in Temirtau, wo am 1. Dezember 1980 das Deutsche Schauspieltheater seine Pforten öffnete.
Wie eine zusammengewachsene Familie
Laien stellen sich das Schauspielerleben in der Regel wie ein ewiges Fest vor. Das reale Leben hinter den Theaterkulissen bleibt den allermeisten verborgen – es hat seine hellen und dunklen Seiten. Nicht anders war es beim Deutschen Schauspieltheater. Zu den Gastspielreisen in die Siedlungsgebiete der Deutschen gehörten alle möglichen Unannehmlichkeiten, es mussten tausend Dinge durchdacht und organisiert werden. Der begeisterte Empfang der Zuschauer, die Gespräche danach und die Teerunden in den Hotels machten aber so manches Unangenehme wett und befeuerten den Elan immer neu.
Zum Team, das wie eine zusammengewachsene Familie war, gehörten außer den Schauspielern Masken- und Kostümbildner, Gewandmeister, Bühnenmontagearbeiter, Fahrer und noch viel mehr.
Für Peter Zacharias war die Schauspielerkarriere vorläufig zu Ende, als er 1982 zum Armeedienst eingezogen wurde. Während seiner Abwesenheit hatte sich am Theater vieles verändert. Dort spielten bereits neue Schauspieler, und seine Ehefrau hatte einen neuen Partner. Er beschloss daher, das Theater zu verlassen.
Tief in der Seele immer noch Schauspieler
Der Neuanfang gelang ihm in Konstantinowka, Gebiet Pawlodar. Dort bekam er nicht nur eine Wohnung, sondern auch die Möglichkeit, Theaterstücke aufzuführen. Er heiratete die Solistin des bekannten Folkloreensembles „Ährengold“, Lydia Grabowski. Das Ehepaar bekam zwei Kinder, Kristina und Alfred. Nach etwa vier Jahren kehrte Peter Zacharias wieder nach Temirtau und an das Deutsche Schauspieltheater zurück, wo er als Schauspieler noch viele Höhepunkte erleben durfte.
Nach Deutschland kam die Familie Zacharias im Februar 1991. Zuerst stanzte Peter hier anderthalb Jahre Bauteile in einer Kleinfirma, anschließend kam er in einem Computerunternehmen unter, wo er 13 Jahre lang ein sicheres Einkommen hatte, bis die Firma nach Ungarn verlegt wurde. Nun stand er wieder am Scheideweg. Dem Entschluss, sein Theaterdiplom anerkennen zu lassen, folgte die Empfehlung des Arbeitsamtes, einen Sprung in die Selbständigkeit zu wagen.
So begann eine neue Etappe seines Lebens. Zuerst waren es Theater-Arbeitsgemeinschaften in Schulen und für Erwachsene. Als er das Angebot bekam, einen Sprachkurs zu leiten, sagte er zu und fand daran mit der Zeit Gefallen. Nach einer Weiterbildung arbeitet er immer noch als Deutschkursleiter in Siegen. Einmal die Woche taucht er mit einer Theater AG in seinen früheren Beruf ein. Tief in der Seele ist er Schauspieler geblieben. Andererseits – heißt es nicht, dass auch Pädagogen Schauspieler sein müssten?