Besuch im Ethnozentrum „Nomad“ nahe Almaty
Ob im Zentralen Staatsmuseum oder im Kastejew-Museum der Künste – Almaty bietet zahlreiche Möglichkeiten, Requisiten aus dem früheren Leben des kasachischen Volkes zu begutachten. Das Ethnozentrum „Nomad“ geht jedoch noch einen Schritt weiter und verspricht Besuchern eine Reise in die Vergangenheit. Eine Anpreisung der eigenen Kultur oder eine nur wenig authentische Inszenierung für Touristen aus dem Ausland?
Nur rund 60 Kilometer von der Innenstadt Almatys entfernt liegt das Ethnozentrum „Nomad“. Die Betreiber versprechen ein authentisches Erlebnis, das Besuchern ermöglicht, den traditionellen Alltag der kasachischen Nomaden hautnah mitzuerleben. Auf den ersten Blick scheint das moderne Kasachstan hier mitsamt seinem lauten Verkehr, dem Geruch von Abgasen und den gestressten Stadtbewohnern auf Elektrorollern weit entfernt.
Statt vom schnelllebigen Großstadtleben bin ich hier von Jurten, Menschen in traditioneller Kleidung und dem Geruch von frisch gegrilltem Fleisch umgeben. Kinder spielen auf einem Platz vor einer großen Pferdekoppel Fußball, einige Familien haben es sich zwischen den Zelten auf einem traditionell aussehenden Teppich gemütlich gemacht. Die Anlage ist groß – und so auch die Kontraste: Zwischen zahlreichen Jurten auf einer weitläufigen Graslandschaft lassen sich hier auch moderne Sanitäranlagen in viereckigen Betonhäusern, riesige Verstärker für die Musikanlage und geteerte Wege finden.
Internationales Publikum keine Seltenheit
Mitten im munteren Treiben der Gäste entdecke ich einen freundlich aussehenden Mann mit Kappe. Es ist Zhandos Nurbekov, der Direktor des Ethnozentrums. Nurbekov hat das Dorf 2018 zusammen mit einigen Bekannten gegründet. In seiner Freizeit beschäftigt er sich bereits seit langem mit der nomadischen Tradition, erzählt er mir. Vieles, was hier zu sehen ist, stamme aus seiner eigenen Sammlung.
„Meine Kollegen, die von meinem Hobby und den gesammelten Dingen wussten, haben mich dann ermuntert“, berichtet er. „Sie sagten, dass ich aufhören muss, für mich selbst zu sammeln, und es stattdessen Leuten zeigen soll. 2018 haben wir dann hier die erste Jurte hingestellt. Dann kam die zweite, dann die dritte…und so hat sich das dann alles entwickelt.” Ohne große Umwege führt er mich in das kulturelle Herz des Dorfes – das kleine Jurten-Museum.
Als wir eintreten, scheint es für einen kurzen Augenblick wirklich so, als hätten wir eine Reise in die Vergangenheit gemacht. Das Zelt ist im Inneren mit traditionellen Teppichen tapeziert, überall liegen Requisiten und Werkzeuge aus vergangenen Zeiten. Nurbekov wirkt stolz. Zu den Besuchern des Zentrums zählen vor allem Einheimische und Schulklassen, erzählt er. Doch auch internationales Publikum sei keine Seltenheit. „Bei einem Festival im September 2019 hatten wir Besucher aus 35 Ländern. Es kamen Menschen aus Australien, Neuseeland, Amerika. Auch aus arabischen Ländern oder aus Indien und aus China.“
„Eine sehr praktische Sache“
Nach nur kurzer Zeit schließt sich uns Kulparshyn Akhmetova an. Sie trägt ein traditionell kasachisches Kleid und führt mich enthusiastisch durch die Jurte, erklärt mir dabei die Funktion und Geschichte der einzelnen Gegenstände. Besonders viel Zeit nimmt sie sich bei der Baby-Krippe, einem sogenannten Besyk. Das aus Holz bestehende Gestell wurde früher häufig genutzt. Es lässt sich praktisch um die Schulter hängen, was für die immer umherziehenden Nomaden damals besonders wichtig war, wie sie erläutert.
Auffällig ist das kleine Loch in der Mitte, das sich als eine Art eingebaute Toilette herausstellt. Windeln gab es bis in die 2000er Jahre noch nicht, da mussten kreative Lösungen her, so Akhmetova. „Weil unser Volk so gut wie gar nicht mehr wandert, ist das Besyk heutzutage nicht mehr so beliebt. Ich selbst habe mein Kind jedoch noch in dieser Art von Kinderbett großgezogen. Es ist eine sehr praktische Sache.“
Ausritte, Bogenschießen und Schwertkämpfe
Wieder draußen im Jetzt angekommen, merke ich, wie es die Besucher in Richtung der Koppel zieht: Es ist Zeit für die Pferdeshow. Sie sei das Highlight des Programms, wie mir Nurbekov versichert hat. Als ich an der kleinen improvisierten Besuchertribühne ankomme, fallen mir direkt die in prunkvollen Rüstungen gekleideten Reiter ins Auge – sowie der bunt tätowierte junge Mann, der das bevorstehende Spektakel in Sneakern anmoderiert.
Während die Männer auf den Pferden Kunststücke vorführen, Kampfszenen inszenieren und ihre altertümliche Ausrüstung präsentieren, fungiert Nurbekov am Mikrofon als Geschichtslehrer. Er stellt jedes Schwert, jedes Beil und jeden Bogen einzeln vor und gibt dabei umfassenden historischen Kontext – vom 2. Jahrhundert vor Christus bis hin zum Kasachischen Khanat im 19. Jahrhundert. Die Zuschauer hören ihm gebannt zu.
Obwohl die Rockmusik im Hintergrund der Show ein wenig an Authentizität nimmt, wirkt das Klirren der metallenen Rüstung und der bebende Boden beim Vorbereiten der Darsteller beeindruckend. Nach der rund einstündigen Show und zahlreichen Darbietungen von halsbrecherischen traditionellen Spielen haben die Besucher schließlich die Möglichkeit, selbst zu Pferd das Areal zu entdecken. Auch Bogenschießen und Schwertkämpfe stehen als Aktivitäten zur Verfügung.
Auf der Suche nach dem Woher der Kasachen
Wer nicht ganz so viel Nervenkitzel will, kann sich derweil zurück zu den Jurten begeben. Hier wartet Akhmetova bereits auf mich. Es ist Zeit für Tee. Sie führt mich in eine Jurte mit Stühlen und Tischen, auf denen verschiedene Süßspeisen präsentiert werden. Der Tee wird hier in typisch kasachischen Schälchen namens Pialas serviert. Neben international bekannten Snacks wie Blinis gibt es unter anderem auch Irmshik – welches türkischen Halva ähnelt – und Zhent, einen süßen Brei aus Butter und Buchweizen.
Ich will wissen, was Akhmetova bei ihrer Arbeit antreibt. Ihr gehe es vor allem um die Repräsentation ihrer Kultur im internationalen Umfeld, antwortet sie. „Wenn Leute aus dem Ausland nach Kasachstan kommen, dann gehen sie vor allem nach Almaty. Sie sehen die großen Autos, die Jeeps. Die Stadt ist so modern. Aber die Leute fragen auch immer wieder, woher die Kasachen eigentlich kommen. Und deshalb wollten wir ein solches Ethno-Zentrum schaffen. Es ist ein Ort, um unsere Geschichte zu studieren, um Geschichte zu lernen.“
Langsam neigt sich der Tag dem Ende zu. Als ich das Dorf verlasse, sind vor allem die anwesenden Kinder noch voller Tatendrang. Sie rennen zwischen den Jurten hindurch, spielen Volleyball oder liegen im Gras und reden aufgeregt miteinander. Ich selbst bin von all den Eindrücken ein wenig erschöpft. Das „Nomad“-Ethnozentrum erfüllt in jedem Fall seinen selbst auferlegten Bildungsauftrag – auch dank der Mitarbeitenden, die ihre Kultur und Traditionen engagiert mit ihren Mitmenschen teilen.
Anstoß für eine nachhaltigere Lebensweise
Vor meinem Abschied frage ich Nurbekov noch, was die Nomadenkultur für ihn so besonders macht. „Der Hauptunterschied zwischen der nomadischen und der sesshaften Kultur ist, dass alle sesshaften Kulturen versuchen, die Natur dem Menschen zu unterwerfen. Bei der nomadischen Kultur ist es genau andersherum. Sie lebt nach den Gesetzen der Natur“, so der Direktor. Man sehe es an der derzeitigen weltweiten Entwicklung in der Umwelt. Durch den Kapitalismus seien zahlreiche Tier- und Pflanzenarten ausgestorben und zerstört worden. Die Nomaden stünden jedoch auch heute noch an der Seite der Natur. „Wir haben hier etwas, auf das wir stolz sein können, was wir an die Welt weitergeben können.“
So ganz kann man dem 21. Jahrhundert hier nicht entkommen. Dennoch kommt der Besuch im „Nomad“-Ethnozentrum einer Zeitreise ziemlich nahe. Den Betreibern ist es gelungen, einen Mittelweg zwischen der alles umgebenden Realität der Moderne und der Authentizität von kulturellen Traditionen zu finden. Dabei ist eine Art von Open-Air-Museum entstanden, das eine lebhafte Alternative zu klassischen Museen mit ihren oftmals hinter gläsernen Vitrinen verborgenen antiken Relikten darstellt. Und wer genau zuhört, kann nicht nur für sich etwas lernen – sondern einen Anstoß für eine nachhaltigere Lebensweise mit nach Hause nehmen, von der auch das eigene Umfeld profitieren kann. Vielleicht sogar die Menschheit als Ganzes.