Herr Professor Enders, Sie haben die Ausstellung „Voll der Osten“ an die Pädagogische Universität in Taras geholt, an der sie in diesem Jahr als Prorektor für Internationalisierung wirken. Mit ihren Photographien aus den 1980-er Jahren bildet die Ausstellung das Leben in der DDR vor allem in seiner Tristesse ab und in seiner Widersprüchlichkeit zu den Verheißungen der herrschenden Propaganda. Damit sollen der Protest der DDR-Bürger und schließlich der Mauerfall verständlich werden. Wo und wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Ich war 1981-1983 Doktorand in Moskau und habe danach wieder in meiner Studentenbude in Berlin – Prenzlauer Berg gewohnt: 1 Zimmer mit Ofenheizung, Toilette eine halbe Treppe tiefer. Der Mangel war allgegenwärtig (die tristen U-Bahn-Fahrer aus der Ausstellung passen trotzdem eher in unsere heutige Zeit). Beruflich trafen mich als theoretischen Physiker die Reisebeschränkungen mehr als die materiellen Mängel. Ideologische Einflussnahmen auf die Physik habe ich in den 1970-er Jahren erlebt, nicht mehr in den 1980-er Jahren.

Und wie haben Sie den Mauerfall selbst erlebt?

Meine Frau, eine gebürtige Kasachin, und ich haben an fast allen Demonstrationen in Ostberlin teilgenommen, auch an der großen Manifestation am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz mit eineinhalb Millionen (!) Teilnehmern. Es war klar, dass noch mehr passieren würde. Am Abend des 9. November verkündete Politbüromitglied Schabowski, dass ab sofort jeder einen Antrag auf Reise nach Westdeutschland stellen könne, ohne die bisherigen Einschränkungen. Das habe ich nicht mitbekommen, und wenn, dann hätte ich diese Aussage nicht als das Ende der Grenzkontrollen verstanden, und so war sie ja auch überhaupt nicht gemeint. Am nächsten Tag arbeitete ich zuhause. Nachmittags schaltete ich eher zufällig den Fernseher ein und traute meinen Augen kaum. Dann habe ich beobachtet, an welchen Grenzübergängen am wenigsten kontrolliert wurde, denn meine Frau hatte noch keinen DDR-Ausweis. Das war glücklicherweise an der Bornholmer Brücke, die nicht allzu weit von meiner Wohnung lag. Als meine Frau endlich heimkehrte, haben wir uns sofort aufgemacht. Die Straßenbahnen waren übervoll, so sind wir gelaufen. Auf Westberliner Seite lauter freundliche Menschen und Gastgeschenke – phantastische Stimmung allseits! Meine Frau gelangte dann um 18 Uhr als Letzte in eine Filiale der Deutschen Bank, in der ich das Begrüßungsgeld von 100 DM erhielt. Sie musste ein Rathaus aufsuchen. Dort – so mein Eindruck – drückte eine freundliche ältere Angestellte ein Auge zu, sodass meine Frau ebenfalls 100 DM erhielt. Sie hat davon Medikamente für ihre Mutter in Almaty gekauft.

Heute wird wieder verstärkt diskutiert, ob die DDR ein Unrechtsstaat war. Wie sehen Sie das?

Die DDR war erklärtermaßen eine Diktatur – in Wirklichkeit allerdings nicht die der Arbeiterklasse, sondern die der sog. Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Wie die sog. Kommunistische Partei der Sowjetunion war sie keine Arbeiterpartei, war weder sozialistisch, noch kommunistisch, sondern bolschewistisch – seit den 1950-er und 1960-er Jahren aber nicht mehr stalinistisch. Ulbricht und Honecker waren Handwerker, mithin „Kleinbürger“, nicht Arbeiter. Das politische Strafrecht war das einer Diktatur, das heißt Unrecht, keine Frage. Dagegen wurden das Familien- und Mietrecht modernisiert und vereinfacht, sodass man es ohne juristische Ausbildung verstehen und selbst anwenden konnte. Dank dessen habe ich mich bei der Wohnungsverwaltung durchgesetzt und verlief meine Ehescheidung in gegenseitigem Einverständnis kurz und knapp. (Jetzt ist hierbei die Inanspruchnahme eines Rechtsanwaltes zwingend vorgeschrieben). Der Rechtsstaat beginnt ja gefühlsmäßig dort, wo der Durchschnittsbürger seine Rechte kennt und ohne Rechtsanwalt durchsetzen kann. Deshalb bin ich dafür, politisches Unrecht und Zivilrecht zu unterscheiden.

Im Vergleich mit dem Nationalsozialismus ist immer wieder von „den beiden Diktaturen in Deutschland“ die Rede.

Angesichts der Konzentrationslager und der Ermordung von Millionen Menschen aus rassistischen oder politischen Gründen im Dritten Reich ist das eher Propaganda vom Niveau des Kalten Krieges, wo sich beide Seiten lächerlich gemacht haben. Ernsthaft: Die DDR-Führung hätte die Proteste mit Gewalt unterdrücken können, wie in den Militärdiktaturen in Europa, Südamerika und Asien oder damals ganz aktuell in Peking im Sommer 1989. Einige Führungskräfte waren dafür; es gab Vorbereitungen in dieser Richtung. Am Ende wurde aber nicht geschossen; auch deshalb nicht, weil auch die Mehrheit der Parteimitglieder und der unteren Parteileitungen für Veränderungen war. Und die Kampfgruppen der Arbeiterklasse haben erklärt, sie würden nach wie vor den Sozialismus verteidigen und gegen Gewalttäter vorgehen – nicht aber gegen friedliche Demonstranten. Und weil es Menschen gab wie den Leiter des Grenzübergangs Bornholmer Straße, Oberstleutnant Harald Jäger, der aus seinem Herzen keine Mördergrube machte und schließlich die Schlagbäume öffnete. (Ich habe in anderen Situationen ähnlich gehandelt.) Mit der von Ihnen zitierten Gleichstellung soll von den heutigen Problemen abgelenkt werden, soll die Partei „Die Linke“ bekämpft werden.

Was hat sich aus Ihrer Sicht zum Positiven verändert?

Zuvörderst: Das politische Unrecht der DDR und die Reisebeschränkungen waren sofort verschwunden. Wer gesund ist und einen gut bezahlten Arbeitsplatz hat, dem ging und geht es materiell viel besser als zuvor. Für ihn wurden Wohnung und Auto eine Frage des Geldes statt des Wartens bzw. der Beziehungen – Führungspositionen werden allerdings nach wie vor über Beziehungen vergeben, nur dass diese jetzt „Netzwerke“ genannt werden.

Welche Erwartungen wurden nicht erfüllt?

Das westdeutsche Grundgesetz sah im § 146 die gleichberechtigte Vereinigung vor. Man hätte das Beste aus beiden Teilen zusammenführen können, z. B. Teile der Wirtschafts- und Sozialordnung im Westen und Teile der öffentlichen Verwaltung, Frauenrechte, Kindergarten-Versorgung und Kompetenzen der Betriebs- und Personalräte im Osten. Stattdessen wurde die Eingliederung nebst absoluter Unterordnung nach § 23 forciert.

Was halten Sie von den gegenwärtigen Diskussionen über eine fortwährende Spaltung zwischen Ost und West, wie sie die Wahlergebnisse vermuten lassen?

Infolge der Vereinigung nach § 23 wurden fast alle Führungsposten im Osten mit Westdeutschen besetzt: in Firmen, Universitäten und Forschungsinstituten, Verwaltungen und Parteien. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Zum Beispiel gibt es unter den 120 Abteilungsleitern in den Bundesministerien nur fünf Prozent ostdeutscher Herkunft, in den Vorstandsetagen großer Unternehmen fast keinen. Die sog. Treuhandanstalt hat nicht nur die vielen unwirtschaftlichen Betriebe geschlossen, sondern auch wettbewerbsfähige. Ein Freund hat sich dafür geschämt, dass er dabei mitgemacht hat. Eine Angleichung gibt es dahingehend, dass sich die Reichen im Osten nach oben und die Armen im Westen nach unten bewegt haben. Die Wahlergebnisse erklärt das allerdings kaum.

Handelt es sich in Wirklichkeit nicht eher um eine Spaltung zwischen Stadt und Land?

Diese Spaltung gibt es, allerdings im Westen wie im Osten. Sie betrifft die medizinische, digitale und Verkehrs-Infrastruktur. Allgemeinmediziner werden schlechter bezahlt als Spezialisten und Laborärzte, obwohl ihre Verantwortung deutlich größer ist. Vor 20 Jahren gab es die Initiative D21 der Bundesregierung und großer Firmen wie Siemens. Seitdem ist die allermeiste Zeit eine gelernte Naturwissenschaftlerin Bundeskanzlerin, doch geschah viel zu wenig, gibt es immer noch große Flächen ohne Mobilfunk und ohne schnelles Internet. Um die Deutsche Bahn an die Börse zu bringen, wurde sie kaputtgespart, viele Nebenstrecken stillgelegt. Öffentlicher Nahverkehr ist defizitär, deshalb vor allem auf dem Lande selten. Die Mietenexplosion in den Städten hat aber zu einer Stadtflucht geführt. Die zunehmende Unzufriedenheit in der Bevölkerung und die daraus folgenden Wahlergebnisse lassen erfreulicherweise ein Umdenken in den etablierten Parteien erkennen. In meinem Heimatort verkehren jetzt erheblich mehr Busse, dank dessen wird unser Auto noch häufiger zuhause stehen bleiben.

Dann liegt es vielleicht am zunehmenden Populismus?

„Populismus“ bedeutet wörtlich, dass das Volk (lateinisch populus) im Mittelpunkt steht. Was soll daran schlecht sein? Schließlich behaupten alle politischen Parteien, dass ihnen allein das Wohl der Bevölkerung am Herzen liegt. In Wirklichkeit fühlen sich viele Menschen in West- und Osteuropa von Teilen der politischen Eliten bevormundet. Die Schere zwischen Arm und Reich ist in Europa beständig gewachsen. Einige Vertreter der politischen Eliten verstecken sich hinter der Behauptung, die Welt werde immer komplizierter. Die grundlegenden Zusammenhänge bleiben jedoch eher einfach. Cui bono, wem nützt es?

Vielen Dank für das Gespräch.

Die Fragen stellte Christoph Strauch

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