Vor fast 130 Jahren besuchte der Naturforscher und Schriftsteller Alfred Brehm Sibirien. Bei der Reise durch den Norden Kasachstans entstand in seinen Tagebüchern eine Momentaufnahme des Landes, das damals noch als „weißer Fleck“ auf der Landkarte galt

Am 24. April 1876 verlassen Alfred Brehm und seine Reisegenossen Omsk. Ihr Ziel ist Semipalatinsk unweit der Grenze des russischen Zarenreichs zu China. Der Zoologe Brehm reist gemeinsam mit dem Direktor des Bremer Naturhistorischen Museums Otto Finch und dem Botaniker Graf Karl von Waldburg-Zeil-Trauchburg. Die drei Männer bilden eine kleine Expedition, die im Auftrage des Bremer Vereins für die Nordpolarfahrt unterwegs ist.

Hinter den Reisenden liegen zu diesem Zeitpunkt bereits einige Tausend Kilometer, die sie von St. Petersburg bis nach Nischni Nowgorod per Bahn und von dort weiter mit dem Pferdeschlitten zurückgelegt haben. Der Aufbruch von Omsk in Richtung Süden entfernt Brehm und seine Kollegen vom eigentlichen Ziel der Reise. Denn die Expedition soll die Ob-Mündung am Karischen Meerbusen im Norden Sibiriens erkunden. Das kaiserliche Deutschland plant eine Schifffahrtsroute von Sibirien über Skandinavien zur Ostsee, die den Handel zwischen dem Zarenreich und Deutschland beleben soll. Und nur deshalb kam das Geld für die Expedition zusammen.

Doch den drei Naturwissenschaftlern sind die wirtschaftlichen Beweggründe ihrer Reise egal, als sie den Umweg von mehr als 5.000 Kilometern in Angriff nehmen, der sie so weit ins Herz Sibiriens führen soll, wie nur wenige Europäer vor ihnen. Allzu verlockend ist die unbekannte Region östlich des Irtysch, von der sich die drei eine reiche Ausbeute für ihre wissenschaftlichen Studien erhoffen.

Alfred Brehm hat für die Reise nach Sibirien die Arbeit an seiner berühmten Tier-Enzyklopädie unterbrochen. Die ersten Bände von „Brehms Tierleben“ sind bereits in der zweiten, erweiterten Auflage erschienen. Und Brehm will sich die Chance nicht nehmen lassen, die Steppentiere, die er, ohne sie je gesehen zu haben, in seinem Lexikon aufgeführt hatte, nun endlich selbst in Augenschein zu nehmen.

Von Omsk schlagen die drei den Weg auf der so genannten Kosakenlinie ein. Da, wo auch noch heute die Autobahn am Irtysch entlang in Richtung Südosten verläuft, führte bereits im 19. Jahrhundert eine militärisch besetzte Etappenstraße nach Semipalatinsk. Die Kosakenlinie war einst als Schutzwall des Zarenreichs gegen die Nomadenvölker gedacht. Doch als die deutsche Expedition den Süden Sibiriens besucht, liegt die endgültige Kolonisierung der Region durch Russland, das den Khan von Kokand 1868 geschlagen und unterworfen hatte, schon acht Jahre zurück.

Die Reise durch die Steppe fasziniert Brehm, obwohl die Expedition unter ständigem Zeitdruck steht und er von der Tierwelt kaum etwas zu sehen bekommt. Alfred Brehm führt gewissenhaft Tagebuch, ergänzt durch fast tägliche Briefe an seine Frau Mathilde. Seine Berichte sind als Grundlage des Abschlussberichts für den Bremer Polarverein gedacht. Zudem verdient sich Brehm ein Zubrot mit seinen abenteuerlichen Reportagen, die er in deutschen Zeitungen veröffentlicht. Der Zoologe hat bereits einige Forschungsreisen hinter sich und seine Reiseberichte gelten bei Verlegern als publikumswirksame Veröffentlichungen, die stets eine große Anzahl von Lesern finden.

In Semipalatinsk werden Brehm, der Graf und Finch vom Gouverneur, General Poltoratzky persönlich, in Empfang genommen. Die Stadt zählt zu diesem Zeitpunkt 1.646 russische und etwa 5.000 tatarische Einwohner und besitzt drei Kirchen sowie sieben Moscheen. Sie besteht zum großen Teil aus Baracken mit unbefestigten Straßen dazwischen, über die der stetige Wind Staub und Sand treibt. Die Frau des Gouverneurs begrüßt ihre Gäste mit den Worten „Willkommen in der Wüste.“

Die schlechten Verkehrswege, dazu das Tauwetter, das die Reise bisher zusätzlich erschwert hat, verleiten die Expedition dazu, über einen Monat als Gäste des Gouverneurs in Semipalatinsk zu verweilen. Gemeinsam mit Poltoratzky unternehmen Brehm und seine Kollegen Jagdausflüge in die Steppe und erlegen Wölfe, Birkhühner und Marder. Die Jagd galt im 19. Jahrhundert noch als legitimes Mittel von Naturforschern, die mit den Trophäen wichtiges Forschungsmaterial mit nach Hause brachten.

Auch Brehm stellte diese Methode nicht in Frage, doch darüber hinaus betrieb er Feldforschung und arbeitete nicht nur am toten Tier im Büro. Was ihn von anderen Zoologen seiner Zeit unterschied, war der genaue Blick, mit dem er das Verhalten der Tiere in ihrem natürlichen Lebensraum beobachtete. Lange bevor die Verhaltensforschung zu einem grundlegenden Bestandteil der Biologie wurde, sah Brehm hierin den Schwerpunkt seiner Arbeit. Die lebendigen Beschreibungen von Säugetieren und Vögeln, die er allen anderen Tieren vorzog, sind es auch, die sein Hauptwerk, das „Tierleben“, lange zu einer Instanz unter den Lexika machten.

Auch während seiner Sibirienreise studiert Brehm das Verhalten der Tiere, so auch das der Argalischafe. Die Ausrottung dieser Wildschafart hält er noch für „glücklicherweise unbegründet“. Doch heute sind die Archare, wie die Argalis auch genannt werden, tatsächlich vom Aussterben bedroht. Brehm notiert zu seiner Zeit noch akribisch eigene Beobachtungen und Mitteilungen der Einheimischen und gibt so einen Überblick über die Lebensweise der Wildschafe: „Die Argalis sind Tagtiere, welche bei Nacht, und zwar auf den höchsten Bergspitzen und den gesichertsten Stellen, schlafen, über Tages aber weiden. Am Morgen steigen sie von den Bergen herab, äsen sich am Fuße der Berge oder zwischen den Zügen liegenden Tälern – auch in den breiteren –, ruhen am Mittag wiederkäuend, treten gegen Abend noch einmal auf Äsung und nehmen vor der Dämmerung ihre Schafplätze ein. Ihr gewöhnlicher Lauf, auch wenn sie aufgescheucht werden, ist ein rascher Trott oder Trab, welcher jedoch immer noch so rasch fördert, dass sie ein gerittenes Pferd nicht einzuholen vermag.“ Seine Begeisterung für die Tiere hält ihn nicht davon ab, auf sie zu schießen. Bei einer Jagd auf Argalischafe in den Arkatbergen ist Brehm als einziger Schütze der Jagdgesellschaft erfolgreich und erlegt ein Muttertier.

Nachdem die Reisenden sich in Semipalatinsk erholt haben, machen sie sich in aller Eile auf zur russisch-chinesischen Grenze nach Saissan. Brehm erlebt die Improvisationskunst der Russen, die zerschlissene Wagen-Achsen mit einer Scheibe Speck wieder fahrbar machen, er entdeckt wilde Kamele und bewundert die Chinesen dafür, das jenseits der Grenze reichlich vorhandene Wasser vielfach nutzbar zu machen und jeden Fleck in ein Feld umzuwandeln.

Der kurze Abstecher nach China ist der südlichste Punkt, den die Reisegesellschaft erreicht. Am 23. Mai geht es wieder zurück nach Russland. Obwohl Brehms Augenmerk auch auf dieser Reise den Tieren gilt, lernt er in Sibirien so viele fremdartige Volksstämme kennen, dass er, gleich einem Ethnologen, auch ihre Lebensweise studiert und das abwechslungsreiche Bild der damaligen Bewohner Südsibiriens aufs Genaueste wiedergibt. Brehm begeistert sich für die Kosaken-Frauen, die ihm „als recht angenehme Erscheinungen wohlgefällig ins Auge“ fallen. Über einen Kalmüken-Stamm dagegen schreibt er: „Die Gesichtsfarbe der von mir gesehenen Targauten ist gelb bis braun, in jedem Falle aber unangenehm fürs Auge.“

Auf der gesamten Reise werden die Forscher von Einheimischen begleitet. Wo der Tross aus bis zu hundert Packpferden, aus Trägern, Dolmetschern und Wächtern auch hinkommt, werden die Ausländer aufs freundlichste begrüßt. Die Bewohner der Steppe sind es auch, über die Brehm die ausführlichsten Schilderungen seiner Sibirienreise niederschreibt. Erst nach anderthalb Monaten wagt sich Brehm an dieses Kapitel seiner Reise-Notizen.

Den Kirgisen, wie Brehm die Einheimischen nennt, widmet er fast zwei ganze Tagebücher. Und gleich zu Beginn seiner Schilderung klärt er die heute verwirrende Namensgebung auf: „Die eingeborenen Bewohner der Steppen West- und Mittelasiens nennen sich selbst nicht Kirgisen, sondern Kaisaken; denn der Name Kirgise, soviel als Räuber bedeutend, ist ihnen von den Russen beigelegt worden und wird von ihnen als Schimpfname betrachtet. “

Brehm beschreibt nicht nur das Aussehen der Kasachen – „mittelgroße oder kleine, die Frauen immer kleine Leute“ – er schätzt auch die Jurte als „vollkommenste aller beweglichen Wohnungen“ und gibt regelrechte Bauanweisungen, wie so ein Filzzelt aufzubauen sei. Brehm beschreibt die Reiterspiele des Nomadenvolkes und ihre Liebe zu ihren Herden. Er studiert den Tagesablauf der Frauen, die sich um Kinder und Vieh kümmern, und wundert sich über die Männer, die mit ihrer „Schwatzhaftigkeit […] unendlich weit alle Weiber des Erdenrundes übertreffen.“ Brehm legt die Hochzeitsbräuche der Kirgisen dar, ihren Umgang mit den Toten, er unterhält sich mit ihnen auf arabisch, das er einst in Afrika lernte, und erfährt so einiges über ihre Religion.

Heute stellen Brehms ethnographische Niederschriften geradezu das Ur-Bild der Kasachen dar, die noch durch die Steppe zogen, ihre Aule an futter- und wasserreichen Plätzen aufbauten und die Jurten alsbald wieder auf Pferde und Kamele luden, um weiterzuziehen, die die Milch für den Kumis noch selbst molken und bei denen der Brautpreis in Pferden berechnet wurde.

Im Juli des Jahres 1876 setzen die Expeditionsteilnehmer ihre Reise auf dem Ob gen Norden fort. Noch auf dem Schiff schreibt Brehm seine letzten Erinnerungen an das Steppenvolk der Kirgisen nieder. Aus Zeitgründen kehrt die Expedition nach Deutschland zurück, bevor die Ob-Mündung erreicht wird.

Im Gepäck haben die Reisenden 13 große Holzkisten mit 550 präparierten Säugetieren, 550 Vögeln, 150 Reptilien und über eintausend Insekten. Alfred Brehm selbst bringt 19 Tagebücher mit. Ihr Inhalt wird nie in einem eigenen Buch erscheinen. Doch die Geschichten von den Kirgisen, von den Ufern des Irtysch, vom Markakul und vom Altai, von Saigas, Kulanen und Argalis werden zu den beliebtesten, die der Naturforscher Alfred Brehm noch Jahre später in seinen Vorträgen immer wieder erzählen muss.

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