Vor kurzem wurde das ehemalige Autohaus am Moritzplatz in Berlin-Kreuzberg zu einem Treffpunkt zweier Kulturen. Auf Initiative junger Künstler aus Berlin und Bischkek fand hier bis Ende Mai für zwei Wochen das interkulturelle und interdisziplinäre Kunstfestival „Berlin Bishkek Art Weeks“ statt. Das Thema war die Migrationsproblematik, die heute viele Teile der Welt und insbesondere Europa beschäftigt. Laut Ausstellungskurator Andreas Bauer soll der Fokus auf Zentralasien „dazu beitragen, den eurozentrischen Blick auf Migration zu erweitern und voneinander zu lernen“.

Arbeitsmigration in Kirgisistan

Ausgangspunkt des Projekts war eine von der Rosa-Luxemburg-Stiftung geförderte Recherche- und Dokumentationsreise durch Kirgisistan im Sommer 2021. Die beiden Gründerinnen des Projekts, die Fotografin Louise Amelie und die Sozialpädagogin Darja Nesterowa, bereisten das Land mit dem Fokus auf Arbeitsmigration. Die Wahl des Landes war nicht zufällig. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatte Kirgisistan ein besonders akutes Problem mit der Arbeitsmigration, denn von den 6,5 Millionen Kirgisen leben und arbeiten allein in Russland etwa eine Million.

Die jährlichen Geldüberweisungen machen 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts des Landes aus. Das bedeutet, dass in jeder Familie mindestens ein Arbeitsmigrant im Ausland lebt. Dies hat zur Folge, dass etwa 280.000 Kinder von Arbeitsmigranten bei Verwandten oder in Betreuungseinrichtungen untergebracht sind. Oft wissen die Kinder nicht, was ihre Eltern im Ausland tun, warum sie weggegangen sind und wann sie zurückkehren werden. Was für eine Herausforderung, was für eine Tortur bedeutet die Migration für die Familien, welche Auswirkungen hat die lange Abwesenheit von Familienmitgliedern für die Daheimgebliebenen? Diese Fragen standen im Mittelpunkt ihrer Feldforschung und ihres Fotoprojekts.

Warum Bischkek?

Trotz der dramatischen Aspekte der Migration sind Darja und Louise in der kirgisischen Hauptstadt auf eine blühende junge Kunstszene gestoßen. Bischkek ist in Zentralasien für seine zahlreichen Kunstgalerien, Museen und Kulturveranstaltungen bekannt. Der starke gegenseitige Einfluss der Kulturen Zentralasiens und Russlands ist hier deutlich sichtbar. Die Stadt ist historisch eng mit Russland verbunden, hat aber gleichzeitig ihr tief verwurzeltes Erbe bewahrt. Außerdem gibt es eine wachsende Zahl unabhängiger Kunstinitiativen und -gruppen, die das Leben in der Stadt aktiv mitgestalten. In der Hauptstadt herrscht die besondere Atmosphäre einer jungen Generation von Künstlern mit einer Leidenschaft für Avantgarde-Kunst und neue kreative Ansätze. Es weht ein frischer kosmopolitischer Wind in der Kunstszene. Gleichzeitig gibt es aber auch traditionellere Kunstformen, die ohne Zensur wieder aufblühen. Im Allgemeinen ist die Kunstszene in Bischkek dynamisch, vielfältig und unabhängig.

Kirgisische Künstler

Den Ausstellungsmachern ist es gelungen, ein breites Spektrum an künstlerischen Aktivitäten junger kirgisischer Künstler zu präsentieren. Es umfasst klassische Malerei, Installationen und Skulpturen, Performance, Videokunst, Animation und Fotografie. Bei der Auswahl der Künstlerinnen und Künstler spielten persönliche Erfahrungen mit Migration eine große Rolle. Viele von ihnen haben bereits selbst eine Zeit im Ausland gelebt, gearbeitet oder studiert. Diese Erfahrungen prägen die Persönlichkeit und fließen natürlich auch in ihre Kunst ein. Durch die Migrationserfahrungen wird die Kunstszene in Bischkek internationaler, geprägt von vielen verschiedenen Einflüssen, wodurch sie eine besondere Aktualität und Leuchtkraft hat. Dies ermöglichte den Besuchern eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Thema Migration.

Die meisten der 15 jungen Künstlerinnen und Künstler aus Kirgisistan besuchten Berlin zum ersten Mal und waren beeindruckt von der Vielfalt der deutschen Hauptstadt und ihrem intensiven kulturellen Leben. Der Besuch von Museen, deutschen Künstlerateliers, Berlins berühmten Kunstszenen und die Gespräche mit deutschen Künstlern werden ihre Arbeit sicher nachhaltig beeinflussen. Die Künstler wurden von ihren Landsleuten, insbesondere von kirgisischen Studenten und den Mitarbeitern der kirgisischen Botschaft, herzlich empfangen. Der Botschafter der Kirgisischen Republik, Omurbek Tekebajew, ein prominenter kirgisischer Politiker, Gründer der Oppositionspartei Ata Meken, ist sich der Migrationsproblematik in seinem Land sehr bewusst und besuchte die Ausstellung mit großem Interesse. Ainura Tursumbajewa, Botschaftsrätin der kirgisischen Botschaft, sprach in der Diskussion über die Perspektiven für die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit.

Partner

Viele Berliner Vereine und Forschungseinrichtungen nutzten die Ausstellung und stellten den Besuchern ihre Aktivitäten vor. Der Deutsch-Kirgisische Kulturverein, das Leibniz-Zentrum Moderner Orient, der Novostan e. V., die Stiftung West-Östliche Begegnungen u.a. haben Diskussionsrunden, Workshops, Bücherausstellungen organisiert. Das Filmdrama „Nomaden des Himmels“ (2015) des kirgisischen Regisseurs Mirlan Abdykalykow über das Leben einer Hirtenfamilie in den Ala-Too-Bergen und der berühmte Film „Aika“ (2018) des in Schymkent geborenen Filmemachers Sergej Dwortsewoj über das Schicksal einer jungen Kirgisin, die nach Moskau kommt, um Geld zu verdienen, ergänzten die emotionale Palette des Kunstfestivals.

Anstelle eines Katalogs

Anstelle eines traditionellen Katalogs wurde den Besuchern eine dokumentarische Fotoserie von Louise Amelie präsentiert: „Missing Member: Kyrgyzstan – A Country on the Move“, das Ergebnis einer Reise nach Kirgisistan im Sommer 2021, die in Zusammenarbeit mit Darja Nesterowa entstand. Durch Fotografien, verbale Porträts und individuelle Geschichten zeigt die Autorin ihre Empathie und Solidarität mit den Charakteren und verdeutlicht, dass Migration sowohl die Chance als auch die schmerzliche Abwesenheit eines geliebten Menschen bedeuten kann, der zur Arbeit ins Ausland gegangen ist.

Voneinander lernen

Auf die Frage, was Berlin und Bischkek im Umgang mit Migration voneinander lernen können, raten die Initiatorinnen der Ausstellung, Louise Amelie und Darja Nesterowa, in einem Interview, Migration nicht nur als ein zu lösendes Problem zu betrachten, sondern sich auf die positiven Aspekte zu konzentrieren, wie die kulturelle Vielfalt und Kreativität, die Migration mit sich bringt.

„Europa kann von Zentralasien lernen, wie Migration als eine Chance betrachtet werden kann, um neue Perspektiven und kulturelle Einflüsse zu integrieren. In vielen zentralasiatischen Ländern ist Migration ein Teil des täglichen Lebens. Migration ermöglicht es, aus tradierten Mustern auszubrechen. Die Kirgisen sind traditionell ein Nomadenvolk. „Migration is Movement, Movement is Life” – das ist unser Motto. Das wollen wir vermitteln. Wir alle sind unterwegs. Gerade Berlin hat eine lange und interessante Migrationsgeschichte. Auch wenn wir vieles in der Migrationspolitik kritisieren, ist in Berlin doch ein buntes Leben vieler Kulturen gelungen. Hier könnten Erfahrungen und Wissen ausgetauscht werden um die jeweiligen Herausforderungen zu meistern.“

Die kreative Begegnung Berlin-Bischkek soll daher eine Fortsetzung finden.

Galina Nurtasinowa

Teilen mit: