Bereits seit über vier Jahrhunderten bewegt das kasachische Epos Kyz-Zhibek die Menschen. Seine Entstehung lässt sich ungefähr auf das 17. Jahrhundert zurückdatieren. In den ersten Jahrhunderten nach seiner Entstehung wurde es überwiegend mündlich weitergegeben und verbreitet, erst ab dem 19. Jahrhundert fand es zunehmend auch Einzug in die kasachische Literatur und die Welt des Theaters. Ohne Weiteres können es die Liebenden Zhibek und Tolegen mit Romeo und Julia aufnehmen: Sie teilen sich eine nicht minder herzzerreißende Liebesgeschichte.

Mit dem Ende des 19. Jahrhunderts und dem Beginn des 20. Jahrhunderts drangen zusehends mehr und mehr Einflüsse der europäischen Opernkultur auch nach Zentralasien vor. Die Kultur des erzählenden Gesangs war in Zentralasien zwar keine Neuheit, dennoch unterscheiden sich die musikalischen Gattungen, die in Europa über Jahrhunderte praktiziert und perfektioniert wurden, von denen, die in Zentralasien entwickelt und kultiviert wurden. Und so kam es, dass die klassische europäische Form der Oper auf das kasachische Epos Kyz-Zhibek traf und durch das Wirken des Komponisten Jewgeni Brussilowski und des Autors Ghabit Müssirepow zu etwas Außergewöhnlichem verschmolz.

Gemeinsam schufen beide Männer die erste kasachische Oper, basierend auf der Erzählung der Liebesgeschichte von Zhibek und Tolegen. Die zweieinhalbstündige Oper sticht gleich durch mehrere Merkmale heraus und unterscheidet sich durch diese von anderen. Zunächst einmal ist Kyz-Zhibek ausschließlich auf Kasachisch verfasst, wobei die Oper heutzutage sowohl mit englischen als auch russischen Untertiteln versehen ist für all jene, die des Kasachischen nicht mächtig sind. Zudem wurde der Rezitative Gesang durch gesprochene Dialoge ausgetauscht.

In klassischen Opern teilt sich der Gesang meist in Arien und Rezitative auf, wobei die Rezitative dem Vorantreiben der Handlung gilt und oft musikalisch einfacher gehalten ist als die Arien. Auch gibt es in der Rezitative keine Wiederholungen, wie es bei Arien der Fall ist. Zudem wurden bei der Oper Kyz-Zhibek traditionelle kasachische Instrumente in die Komposition mit aufgenommen, ebenso wie mehrere Anspielungen und Auszüge aus alten kasachischen Volksliedern und Gedichten. Die Oper versucht nicht, sich ihren europäischen Verwandten anzupassen und etwas bereits Bestehendes nachzuahmen. Vielmehr nutzt sie bereits vorhandene Strukturen und erschafft sich auf deren Basis neu.

„Nicht jeder ist in der Lage, mit wahrer Liebe zu lieben“

Die Oper Kyz-Zhibek handelt von mehr als verhinderter Liebe und Verrat. Die Erzählung fächert die Tiefe der menschlichen Emotionen auf. Sie zeigt auch, dass Liebe nicht gleich Liebe ist; wozu unerwiderte Gefühle verleiten können, auch wenn kein böser Masterplan dahintersteckt; und dass ein liebendes Herz keinen Tod kennt – sowohl im positiven als auch im negativen Sinne. Zudem wirft die Handlung immer wieder die Frage auf, welche Werte und Reichtümer letztendlich erstrebenswert sind im Leben.

Die Handlung erzählt die Geschichte von dem Mädchen Zhibek, welches für ihre Schönheit berühmt ist. Die Erzählungen über ihre außergewöhnliche Anmut und Schönheit kommen auch dem jungen Tolegen zu Ohren, der sich davon selbst überzeugen möchte. Tolegen ist ein junger Mann, der weder nach Macht noch Besitz strebt. Er hat den Wunsch, wahre und selbstlose Liebe zu finden. Und dieses Streben führt ihn auf eine lange Reise durch die Steppe, bis ihm die Lobpreisungen über Zhibeks Schönheit zu Ohren kommen. Angetrieben von dem Wunsch, diese Schönheit mit eigenen Augen zu sehen, führt ihn sein Weg zu ihr. Auch Zhibek strebt nicht nach materiellem Reichtum. Sie hat sich geschworen, nur einen Mann zu heiraten, den sie von ganzem Herzen lieben könne. Und es scheint, als hätte sie diesen Mann in Tolegen gefunden.

Tolegen und Zhibek verlieben sich nicht nur unsterblich ineinander, sondern verloben sich auch miteinander. Doch eines steht noch aus: der Segen von Tolegens Vater. Um diesen einzuholen, begibt sich Tolegen auf den Weg zurück in seine Heimat. Das Ziel einer Liebesheirat ist fast erreicht und das Glück scheint perfekt – wäre da nicht ein anderer Freier, der Zhibeks höfliche, doch bestimmte Zurückweisung weniger gut akzeptieren kann. Es handelt sich um Bekezhan. Statt sich seine Niederlage einzugestehen, hat er sich in den Kopf gesetzt, um jeden Preis Zhibeks Liebe zu gewinnen. Er folgt Tolegen, um sich dafür an Tolegen zu rächen, dass dieser erlangte, was Bekezhan nie gehörte.

„Hüte dich vor jenen, die die Liebe nicht gefunden haben“

Während Zhibek sehnsuchtsvoll auf Tolegen wartet, wird dieser gleich in mehrerlei Hinsicht vom Schicksal geprüft. Nicht nur muss er dem vor Eifersucht kochenden Bekezhan die Stirn bieten. Auch sein Vater stürzt ihn in ein Dilemma, denn er weigert sich, der Heirat mit Zhibek zu zustimmen. Nun steht Tolegen vor einer schweren Entscheidung, die seine hehren inneren Bestrebungen auf einen Prüfstein stellen.

Mit dem Segen seiner Mutter und gegen den Willen seines Vaters macht sich Tolegen auf den Weg zurück zu Zhibek. Zuvor ist es ihm jedoch noch gelungen, einen ehemaligen Feind als Freund zu gewinnen. Bekezhan hat sich eines Besseren besonnen und möchte nun Tolegen bei seinem Unternehmen, Zhibek zu ehelichen, als Freund unterstützen. In der Steppe treffen sich die beiden Männer, um von dort aus zu Zhibek aufzubrechen. Als Tolegen beginnt, in Erinnerungen an Zhibek zu schwelgen und ihre Schönheit und ihr gütiges Herz zu preisen, überkommt Bekezhan erneut die Eifersucht.

In blinder Wut ersticht er hinterrücks seinen arglosen Freund. Als Bekezhan wieder zu Sinnen kommt, ist er entsetzt von seiner Tat. Schwer trägt er an der Schuld, die er auf sich geladen hat. Nicht nur, dass er sich den Mord an seinem Freund nicht verzeihen kann. Es zerreißt ihm auch das Herz, zu wissen, das Zhibek – die er nach wie vor liebt – zuhause sitzt und auf den Auserwählten wartet – unwissend, dass er niemals zu ihr zurückkehren wird. Bekezhan bringt zumindest genug Kraft auf, die unglückliche Botschaft zu überbringen und sich Zhibeks Zorn, Verachtung und Trauer zu stellen.

Als Bekezhan eintrifft, plagen Zhibek bereits Albträume und Vorahnungen, dass etwas Furchtbares geschehen sein muss. Und als Bekezhan ihr gesteht, was er getan hat, zerfällt sie in Gram. In ihrer Trauer und Verzweiflung verflucht sie Bekezhan und all seine Nachfahren. Doch all dies bringt ihren Liebsten nicht zurück, und die einzige Hoffnung auf Wiedervereinigung findet sich im Tod. Zhibek stirbt an ihrem gebrochenen Herzen. Obwohl die Liebenden nun im Tode vereint sind, ist es wohl kaum möglich, von einem glücklichen Ende zu sprechen – bedenkt man den Preis, den das Wiedersehen forderte.

Ein Abend zum Erinnern

Farbenfroh und mit viel Liebe für das Detail ist das Bühnenbild der Oper konzipiert worden. Es gibt während der Aufführung insgesamt drei kleinere Pausen, um das aufwendig gestaltete Bühnenbild umzubauen. Doch das Warten lohnt sich. Jeder Szenenwechsel bringt eine neue Überraschung mit sich, und darüber hinaus wird die Szenerie noch unterlegt mit Projektionen und Lichteffekten, die dem Zuschauer das Gefühl vermitteln, mittendrin im Geschehen zu sein. Auch der Ritt durch die Steppe bleibt keine bloße Imagination für den Zuschauer, da Bekezhan und Tolegen auf echten Pferden über die Bühne galoppieren.

Wer sich selbst von der Fülle an musikalischen und visuellen Eindrücken überzeugen möchte, kann dies im Abai Opernhaus in Almaty tun. Es wird auf jeden Fall eine Aufführung sein, die im Gedächtnis bleibt.

Anne Lemke

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