Feminismus ist ein Wort, das die kasachische Gesellschaft polarisiert. Häufig als Schimpfwort gebraucht, geben manche offen zu, Feministinnen zu sein. Zwei von ihnen sind Leyla Machmudowa und Saule Sulejmenowa. Beide haben ihre eigenen Wege gefunden, um Frauen in der kasachischen Gesellschaft präsenter zu machen.
25.000 Plastiktüten. So viele Tragetaschen hat Saule Sulejmenowa seit 2014 gesammelt. Das ist nicht schwer: In Kasachstan ist es fast unmöglich, einen Laden ohne die bunten Beutelchen zu verlassen. An Straßenrändern liegen sie herum, in Steppensträuchern verfangen sie sich. Sulejmenowa, runde Brille, gestreifte Bluse, die Haare locker zusammengebunden, Kettenraucherin, sitzt in ihrem Almatyner Atelier. Überall liegen die Plastiktüten herum, mit denen sie ihre Kunstwerke gestaltet. „Moderne Kunst ermöglicht mir eine andere Sichtweise, die Möglichkeit, Dinge anders zu verstehen und darzustellen“, sagt sie.
Landschaften, Stadtansichten, Personen: Sulejmenowa kann alles darstellen. In ihren Arbeiten prangert sie somit nicht nur das mangelnde Umweltbewusstsein vieler Kasachstaner an, sondern greift auch gesellschaftliche Themen auf. Im Mittelpunkt ihrer aktuellen Ausstellung steht die Erinnerung an die nationalen Tragödien des Landes, als es noch Teil der Sowjetunion war, wie die große Hungersnot in den 1930er Jahren oder die Scheltoksan-Unruhen.
Ein wiederkehrendes Thema sind jedoch Frauen. Vor allem ein Motiv darf seit ihrer ersten Ausstellung 2006 nicht fehlen. „Die drei Bräute sind ein Abbild unseres Landes“, sagt Sulejmenowa. Das Motiv stammt von einem Foto von 1972, auf dem drei Frauen in traditionellen kasachischen Brautkleidern zu sehen sind. Besonders glücklich schauen sie nicht aus. Obwohl ihr die genauen Umstände der Entstehung des Bildes, das sie durch Zufall entdeckte, unbekannt sind, bedeutet das Foto für sie viel: „Es steht für die Unterdrückung von Frauen, wenn sie als frisch vermählte Frau zur Familie des Mannes ziehen.“
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Mentale Kolonisierung beenden
Die Künstlerin hat ihre erste Tochter als unverheiratete Frau bekommen. Erst anderthalb Jahre nach der Geburt kehrte der Vater zu ihr zurück, um sie zu heiraten. Gemeinsam zogen sie zu seinem psychisch kranken Bruder, um den sich die junge Mutter ebenfalls kümmerte. Zu Beginn dieser Ehe rief die Mutter ihres Mannes noch jeden Morgen an, um Sulejmenowa daran zu erinnern, dass sie keine Moral besitze und nichts wert sei.
In Zentralasien ist eine Braut dem Willen der Familie des Mannes unterworfen: Sie steht früher auf als die anderen und geht erst schlafen, wenn alle ihr aufgetragenen Arbeiten erledigt sind. Als Ehefrau wird sie in der traditionellen kasachischen Gesellschaft erst etwas wert sein, wenn sie einen Jungen auf die Welt bringt, denn vielerorts herrscht die Ansicht vor, dass eine Frau nicht alleine für sich sorgen könne. In jungen Jahren braucht sie dafür einen Mann, im Alter die Kinder, die sie unter Umständen später pflegen. Nach zwei Jahren Ehe ließen sich die damals 26-jährige Sulejmenowa und ihr Mann wieder scheiden. Heute ist sie mit einem Künstler verheiratet, mit dem sie eine weitere Tochter hat.
Geboren 1970 in Almaty, trat die Tochter eines bekannten Designers und Architekten in die Fußstapfen ihres Vaters. Mit 20 Jahren schrieb sie sich an einer Akademie ein, um Architektur zu studieren. „Im Gegensatz zur klassischen kasachischen Kunst muss man im Fach Architektur denken“, begründet sie ihre Entscheidung.
Heute arbeitet sie hauptberuflich als Künstlerin. Ihre Werke werden international ausgestellt. Mit ihrer Kunst will Sulejmenowa dazu beitragen, die „mentale Kolonisierung” durch die Sowjetunion rückgängig zu machen. „Während der Sowjetunion wurde den Kasachen erzählt, dass sie Primitive und Wilde seien, die von den Russen zivilisiert wurden. Irgendwann haben sie es geglaubt. Etwas Ähnliches ist mit den Frauen passiert: Wenn ihnen immer wieder erzählt wird, sie seien nichts wert, glauben sie es irgendwann.“ Doch sie sieht auch, wie sich etwas ändert – wie die Generation ihrer Tochter anfängt, sich den gesellschaftlichen Zwängen zu widersetzen und für ihre Rechte einzustehen. „Es ist wichtig, dass sie beginnen, sich auszutauschen und zu vernetzen.“
Dem Alltagssexismus entgegentreten
Eine, die diesen Austausch vorantreibt, ist Leyla Machmudowa. Die junge Frau mit den kurzen schwarzen Haaren und rundem Gesicht organisiert Konferenzen und Projekte, um Frauen zu verbinden und ihnen ihre Möglichkeiten aufzuzeigen. Angefangen hat ihr gesellschaftliches Engagement während ihres Lehramtsstudiums, als sie Studierende unterstützte, die einen Studierendenrat gründen wollten. Später kandidierte sie selbst für den Vorsitz. Machmudowa gewann zwar die Wahl, doch wurde sie von allen Seiten argwöhnisch betrachtet. „Es ist sehr ungewöhnlich, dass Frauen führen. Deshalb habe ich die Starke gespielt. Ich habe das Spiel der Männer mitgespielt, um als gleichberechtigt zu gelten“, sagt sie heute. Damals habe sie verstanden, dass in Kasachstan in keinem einzigen Bereich eine Gleichstellung der Geschlechter herrsche.
Nach dem Studium eröffnete sie zusammen mit ihrem damaligen Freund eine Sprachschule. Sie wollte im Bildungsbereich arbeiten. Doch bei Geschäftsessen, an denen sie beide teilnahmen, wurde sie häufig in den Gesprächen übergangen. „Ich war unsichtbar für die anderen, obwohl ich versuchte, mich aktiv einzubringen,“ erzählt Machmudowa, „diese kleinen Zeichen zeigten mir nach und nach den Sexismus auf, der in unserem Land herrscht.“
Die Aktivistin ist im konservativen Süden Kasachstans aufgewachsen. Erst mit der Zeit begriff sie, was die Generation ihrer Mutter und Großmütter hat aufgeben müssen, weil sie gezwungen waren, zu heiraten und Kinder zu bekommen. In Almaty traf sie Gleichgesinnte, mit denen sie anfing, über Feminismus zu diskutieren. Sie hatten die Idee, Konferenzen zu organisieren, auf denen sich Frauen austauschen und voneinander lernen. Seit 2016 organisiert sie mit einem Team weiterer Freiwilliger Konferenzen für Frauen in Almaty. Zu jeder Veranstaltung kommen etwa 100 Teilnehmerinnen.
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Alte Denkmuster durchbrechen
Obwohl die 25-Jährige mit ihrem Engagement für Offenheit und Diversität kämpft, fällt auch sie Stereotypen und Vorurteilen zum Opfer. „Ich bin 18 Jahre lang anders erzogen worden. Diese Kultur prägt einen“, sagt sie. Wenn sie nach Hause fährt, gibt es immer wieder Diskussionen mit ihren Eltern über ihr Engagement. Trotzdem merke sie, wie sich die Einstellung ihrer Eltern langsam verändere und sie offener gegenüber ihren Ideen würden.
Allerdings sind nicht alle davon überzeugt. „Es gibt Männer, sie sich absichtlich sexistisch mir gegenüber verhalten. Manche sagen, ich sei aggressiv, indem ich Posts auf Facebook verfasse oder diese Konferenzen organisiere.“ Manchmal habe sie das Gefühl, dass es in Kasachstan an der passenden Gesellschaft fehle, um ihre Ideen umzusetzen, erzählt Machmudowa. Wenn man nicht in die üblichen Muster passe, werde man als aggressiv bezeichnet. Besonders ärgere sie, dass Frauen nicht verstünden, dass sie in Kasachstan nicht dieselben Möglichkeiten wie Männer hätten. Häufig seien Frauen die Ersten, die sich ihr entgegenstellten.
„Wir haben keine Probleme hier, keiner greift uns an oder tötet uns“, sagen diese dann. Machmudowa entgegnet ihnen, dass sie nicht erst jemand umbringen müsse, damit die Ungleichheit sichtbar werde. Zudem belegen offizielle Zahlen, dass in Kasachstan jedes Jahr 90.000 Frauen Opfer häuslicher Gewalt werden, rund 400 sterben an den Folgen. In einem Land mit nur 17 Millionen Einwohnern ist diese Zahl erschreckend hoch, insbesondere im Vergleich zu Deutschland. Hier wurden 2017 nach Angaben des Bundeskriminalamts gut 100.000 Frauen Opfer häuslicher Gewalt, 149 starben.
Zusammen mit der Friedrich-Ebert-Stiftung organisierte sie im März 2018 mit „FemAgora“ erstmals eine Plattform, auf der Frauen aus ganz Zentralasien drei Tage lang über Feminismus diskutierten. Das Hauptthema war Frauen in Film und Kunst. Doch es ging auch um Themen wie sexuelle Selbstbestimmung oder die Rolle von Frauen und Feminismus in der kasachischen Gesellschaft. Mehr als 300 Interessierte nahmen teil. In diesem Jahr ist aus diesen drei Tagen eine ganze Woche geworden. Es geht um Frauen in Medien, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft.
Veränderungen sind möglich
Die Künstlerin Sulejmenowa sagt von sich selbst, dass sie schon immer unangepasst gewesen sei. Als Aktivistin habe sie sich selbst jedoch nie gesehen. Bis zum Sommer vor zwei Jahren: Während der EXPO in der Hauptstadt war auch Suleimenowas Ausstellung im Kasachischen Nationalmuseum zu sehen. Die Leiterin des Zentrums für zeitgenössische Kunst, Rosa Abenowa, hatte Suleimenowas Ausstellung gegen den Widerstand der Museumsdirektion nach Astana geholt. Dafür sollte sie im August 2017 entlassen werden.
Sulejmenowa verfasste auf Facebook einen Aufruf gegen die Entlassung Abenowas, dem sich innerhalb von drei Tagen mehr als 600 weitere Künstler anschlossen. Viele kasachstanische Medien berichteten darüber. Diese Unterschriftenliste legte sie dem damaligen Premierminister vor. Aufgrund des öffentlichen Drucks wurde die Kündigung Abenowas vom zuständigen Ministerium schließlich zurückgezogen. „Der letzte Tag meiner Ausstellung war mein erster Tag als Aktivistin“, sagt sie.