„Kriegsenkel“ nennen sich die Kinder der Kriegskinder, die sich fragen, wie die Kriegserlebnisse und die Erfahrung von Flucht und Vertreibung ihrer Eltern das eigene Leben geprägt haben. Sie gründen Netzwerke, veranstalten Wissenschaftskongresse und entdecken Osteuropa – und verändern die Wahrnehmung der Kriegs- und Nachkriegsgeschichte.

Es fing damit an, dass ich ein Ziehen in der Schulter spürte. Dem Ziehen folgte ein dumpfer Schmerz; eine Muskelblockade, die mit einer Schreibblockade einherging und sich weder durch Physiotherapie noch durch die wöchentlichen Besuche beim Chiropraktiker auflösen ließ. „Sie dürfen sich nicht hängen lassen!“ impfte er mir ein. „Melden Sie sich in einem Fitnessstudio an!“

Ich folgte seiner Empfehlung, so wie ich in dieser Zeit allen Empfehlungen folgte, die Hoffnung auf ein Ende der Blockade versprachen, und fand mich am nächsten Tag in einem chromglänzenden Studio zum Probetraining ein.

Beim Aufwärmen auf dem Laufband richtete ich meinen Blick auf den Bildschirm, der an die Wand des Cardio-Bereichs montiert war, und sah plötzlich knochige Männerleichen in einer Ruinenlandschaft apokalyptischen Ausmaßes vor mir: Bilder aus dem Kessel von Stalingrad, die zu einer dieser klassischen Kriegsdokus gehörten, wie sie seit Jahren ständig auf NTV liefen – Dokus, die früher emotionslos an mir vorbeigerauscht waren. Aber an diesem Ort schnürten sie mir die Kehle ab, und ich verließ fluchtartig das Studio.

Auf einer Bank im Treptower Park, am Eingang zum Sowjetischen Ehrenmal, kamen mir die Tränen. Da setzte sich eine Frau neben mich und fragte sanft: „Ваш дед погиб тоже здесь?“ „Ihr Großvater ist hier auch gefallen?“ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Mein Großvater hatte auf der anderen, der Täterseite gekämpft. Und er hatte den Krieg überlebt.

Doch in meinem Kopf tauchte plötzlich ein Dorf an der Wolga auf, ein Junge, der, an die Mähne seines Pferdes geklammert, den Fluss durchschwimmt, dem Rauch aus dem Schornstein eines Holzhauses entgegen, der wie ein Geist über das Ufer schwebt: Eine Szenerie, die mir der Vater meines Großvaters beschrieben hatte, als ich fünf Jahre alt war. Mein Urgroßvater, der Zechenarbeiter aus Dortmund, der sich sein Leben lang in das „schönste Dorf am schönsten Fluss der Erde“ zurücksehnte, aus das ihn der Erste Weltkrieg und die Ausschreitungen gegen die deutsche Minderheit vertrieben hatten.

Und plötzlich wurde ich von einem Weinkrampf geschüttelt, der mich beschämte und, als er vorbei war, in eine große Verwirrung stürzte.

Wie konnte das sein, dass mir dieses Russland auf einmal so in den Körper kroch, grübelte ich? Diese verworrene Beziehung zu diesem Land, mit der ich mich beruflich seit Jahren beschäftigte – indem ich fremde Geschichten erzählte, wie es sich für Journalisten gehörte? Warum war es ausgerechnet diese russische Geschichte, die mich Westkind wie an einem unsichtbaren Faden durchs Leben zog? Und wieso hatte sich dieser Faden so verknotet, das er mir nun als Verspannung im Nacken zu sitzen schien?

„Hast wohl früher nicht genug Marx gelesen?“ feixte ein Freund aus Brandenburg – und kritzelte mir ein Zitat aus dem „Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte“ auf die Serviette: „Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden.“ „Solltest dich mal mit deiner Familiengeschichte beschäftigen!“ sagte er dann, und empfahl mir ein Buch, das ich gleich zwei Mal las, weil ich mich so sehr darin wiedererkannte: „Kriegsenkel – Die Erben der vergessenen Generation.“

So begann ich, mich intensiv mit etwas auseinanderzusetzen, das ich zuvor für die Obsession von Vertriebenenverbänden, Marion Gräfin Dönhoff oder gelangweilten Studienräten a.D. gehalten hatte: Der Kriegs- und Vertreibungsgeschichte meiner Familie.

Seitdem ich denken konnte, trug ich dieses Gefühl der Heimatlosigkeit in mir, diese Sehnsucht nach dem Ankommen. Reiste durch die halbe Welt, um diese Heimat zu finden, dieses sichere Fundament, das aus dem Gefühl erwächst: hier komme ich her. Dies ist der Ast, aus dem ich Triebe bilde.

Wenn ich nach meinem Spezialgebiet gefragt wurde, sagte ich nicht „Außenpolitik“ oder „Osteuropa“, sondern „staatliche Transformationsprozesse“.

Meine erste große Reportage-Reise führte mich nach Kasachstan, ein Land in einem gewaltigen Umbruch. Am ersten Tag verlief ich mich in den Straßen von Almaty, deren kyrillische Schilder ich nicht lesen konnte. Ich wanderte über die Brachflächen, sah die mit Zigarettenschachteln beklebten Kioske, vor denen Männer mit Müdigkeit und Trotz in den Gesichtern rauchten, staunte über die Frauen, die mit Pfennigabsätzen durch den Sand stolzierten, und sog den Duft von Apfelblüten und Holzkohle ein. Und hatte plötzlich das Gefühl, dass mir diese Atmosphäre seltsam vertraut war, diese Mischung aus Zerfall und Stolz, Melancholie und plötzlich aufbrechender Energie, die etwas in mir anrührte, das ich nicht in Worte fassen konnte. Aber dessen süße Schwere mich in den kommenden Jahren immer wieder gen Osten zog.

Drei Jahre später meldete sich ein Mann mit russischem Akzent und dem Mädchennamen meiner Mutter bei mir. Er erzählte mir, dass seine Eltern von der Wolga stammten und 1941 nach dem Ukas Stalins nach Kasachstan verbannt worden waren, wo er aufgewachsen sei. Ich hatte nie darüber nachgedacht, dass mein Urgroßvater Geschwister hatte; dass diese Geschwister überlebt und Familien gegründet haben könnten. „Ein Habensteiner wird mit allen Problemen allein fertig,“ sagte mein Großonkel. „Das hat selbst den Russen Respekt eingeflößt.“

Dann stehst du ja in einer langen Tradition, schoss es mir durch den Kopf! Das, was mein Vater mir als unweiblich vorgehalten und wofür ich mich immer geschämt hatte, hatte eine Geschichte. Eine Geschichte, die im schönsten Dorf am schönsten Fluss der Erde begann.

In den nächsten Monaten stellte sich heraus, dass die russlanddeutschen Verwandten fanatische Familienforscher waren. Ich betrachtete Familienstammbäume und las Tagebücher aus der „Trudarmee“, den Zwangsarbeitskolonnen, mit denen sie in Bergwerksstollen und beim Bau von Fabriken und Straßen in der Steppe schuften mussten.

Ich saß bei den Familien und hörte Geschichten, die von Hunger, Kälte und gesellschaftlicher Isolation handelten – aber ein Gefühl von Nähe in mir erzeugten. Denn der Schmerz in den Gesichtern passte zum Inhalt der Erzählungen.

Wir teilten eine Trauer, die auch ich in mir getragen hatte, aber immer als irreal abgetan hatte. Schließlich hatte ich nichts wirklich Schlimmes erlebt. Das hatten meine Eltern immer wieder betont, als ich ihnen als Teenager von meinem Gefühl erzählte.

Ich bin in einem Reihenhaus in Westfalen aufgewachsen. Mein Vater hatte einen gut bezahlten Job, meine Mutter studierte und legte viel Wert darauf, mich in meinen Begabungen zu fördern. Ich bekam so viele Bücher, wie ich haben wollte, lernte Klavierspielen und fuhr zu Schüler-Literaturseminaren nach Bonn. Beim Abendessen diskutierten wir über den Historikerstreit und die Frage, ob Gott existiert. Trotzdem kam es mir vor, als würde ein Nebel über meinem Leben liegen, der alles schemenhaft erscheinen ließ und mich einsam und melancholisch machte.

„Uns fehlt das Wissen, was passiert ist, und das verunsichert enorm,“ schreibt Joachim Süss, Theologe und Publizist aus Erfurt, dem sein Vater erst bei einem gemeinsamen Besuch in seinem böhmischen Geburtsort erzählte, dass er dort zusammen mit hunderten anderer Angehöriger der deutschen Minderheit in einem Lager interniert war, in dem seine Schulfreunde starben.

Dass mein Vater ein Flüchtlingskind war, habe ich erst mit Mitte 30 erfahren. Auf dem Weg zum Flughafen Dortmund deutete er plötzlich auf ein Mehrfamilienhaus mit rußgeschwärzter Fassade. „Da waren wir einquartiert, als wir im Ruhrgebiet ankamen“, sagte er. Ich war in dem Glauben aufgewachsen, dass die Hilbks eine alte Bergmannsfamilie seien, und fragte erstaunt: „Ankamen? Woher?“ „Aus Thorn“, sagte er. „Allein mit der Mutti.“ Damit war das Thema für ihn beendet.

Meine Mutter, die in Dortmund geboren wurde, hatte immer betont, dass ihr im Krieg nichts Schlimmes passiert sei. Und mit den Nazis hätte die Familie auch nichts im Sinn gehabt. Als Protestant habe man bei diesen Schreihälsen nichts verloren, habe ihr Großvater immer gesagt.

Nur im „Hessenland“, in das sie nach der Bombardierung Dortmunds geschickt worden sei, habe ihr ein Amerikaner ihre einzige Puppe aus der Hand genommen und sei lachend in seinem Jeep davongefahren. Die Verwandten, bei der sie untergebracht war, hätten dazu nur gesagt: „Gott sei Dank sind nicht die Russen einmarschiert!“

Als ich meinen Eltern das Kriegsenkel-Buch schenkte und fragte, wieso sie so wenig über den Krieg erzählt hätten, verstanden sie das als Vorwurf: „Kind, du glaubst doch nicht, dass wir dir etwas verschweigen würden!“

Da wurde mir klar, dass sie die Erinnerungen so tief in sich vergraben haben mussten, dass sie sich vielleicht nicht einmal mehr bewusst waren, dass da überhaupt etwas war. Der Krieg war eine staubige Akte, die sie in einer Kiste im Keller deponiert und vergessen hatten.
Im März 2012 fuhr ich nach Göttingen, zu einem Kriegsenkel-Kongress an der Universität, der mir den Mut gab, das, was ich mir angelesen hatte, ernst zu nehmen.

Eine dreitägige Veranstaltung, auf der ein Dutzend Akademiker aus den unterschiedlichsten Disziplinen – Historiker, Soziologen, Literaturwissenschaftler, Politologen und Psychologen – eine im Wohlstand aufgewachsene, scheinbar sorglose Generation analysierten, die sich in einem Nebel wähnte.

Ein Nebel, den die Psychologen „Traumaderivat“ nannten. Ein Derivat der elterlichen und großelterlichen Traumata, das sich in ihren Verdrängungs- und Verarbeitungsstrategien, in ihrer „Man muss etwas aus sich machen“ – „Man muss sich zusammenreißen“ – und „Die Familie ist eine Burg“- Haltung wie in einem Reagenzglas niedergeschlagen habe – und zur psychischen Grundsubstanz der „Generation Golf“ geworden sei, die ihre Einstellungen und Haltungen, ihr Gefühlsleben und ihre Beziehungen präge.

Als die Referenten danach das Mikrofon ins Auditorium reichten, schwappte eine Welle von Emotionen durch den Saal. Jeder wollte von seinen Gefühlen erzählen, und jeder schien die Gefühle der anderen aufzusaugen wie ein Schwamm – eine Atmosphäre, die mich an die Maueröffnung 1989 in Berlin erinnerte, an diese Mischung aus Trauer, Euphorie und lang unterdrückten Sehnsüchten. Sehnsüchten, in denen ich mich wiedererkannte, und auf einmal schoss mir durch den Kopf: „Wir sind eine Generation!“

Eine Generation, die Frank Schirrmacher, der Herausgeber der FAZ, im vergangenen Jahr in einem Essay als blass, mut- und ideenlos beze ichnet hatte.

Dass wir ernüchtert, skeptisch, ja blockiert für ein eigenes Leben sein könnten – diese Frage schien sich nicht zu stellen. Schließlich hatte diese Republik, auf die das FAZ-Feuilleton blickte, ihre Geschichte doch so akribisch aufgearbeitet – aber offenbar immer noch Angst vor sich selbst. Angst, weil sie immer noch keine Sprache gefunden hatte für das, was sie so tief geprägt hatte.

„Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“ schrieb der deutsche Philosoph Ludwig Wittgenstein, der nach den Nürnberger Gesetzen als Jude galt und nach seiner Berufung zum Professor in Cambridge die englische Staatsangehörigkeit erwarb.

Wie sollte man auch über den verlorenen Hof in Ostpreußen klagen, wenn das eigene Volk für einen Genozid verantwortlich war? Wie sollte man von Ängsten nach Tieffliegerattacken, Vergewaltigung und Bombenkrieg erzählen in der Ahnung, dass der Bruder, der Vater, der Großvater im Ausland an ähnlichen Gräueltaten beteiligt war? Wie hätte man über sich sprechen können, wo es doch immer nur um das Volk gegangen war; wo man gelernt hatte, eigene Bedürfnisse zu ignorieren?

Und so flüchtete sich die Mehrheit der Deutschen nach dem Krieg in eine Normalität, die das Grauen und die Verwirrung vergessen machen sollte. „Nach vorne schauen“ hieß das, und half, Energien für den Aufbau freizusetzen, der die zerbrochene Identität durch eine neue ersetzte, eine Identität der Wirtschaftswundermacher, die frag- und klaglos die Trümmer beiseite räumten und ein, nein, zwei neue Deutschlands schufen.

Eine Heile-Welt-Strategie, die die 68er im Westen als reaktionär brandmarkten. Das förderte die Aufarbeitung, das Bewusstsein einer Kollektivschuld, aber auch die Distanz zwischen den Generationen.

Die hervorstechendste Eigenschaft der Enkelgeneration, heißt es in Sabine Bodes „Kriegsenkel“-Buch, sei ihre Vernetzungsfähigkeit. Und so entstanden innerhalb weniger Monate „Kriegsenkel“-Gruppen, virtuelle auf Facebook und reale in Großstädten wie Köln und München. Ein „Kriegsenkel e.V“ wurde geschaffen, und im „Kriegsenkel-Forum“ wurden Kriegsenkel-Seminare und –literatur gepostet. Historiker gründeten Rechercheunternehmen, die bei der Nachforschung in Militär- und Landesarchiven halfen, Psychologen boten spezielle Familienaufstellungen an.

Ich beschloss, zusammen mit einer anderen Konferenz-Teilnehmerin eine eigene Kriegsenkel-Gruppe in Berlin zu gründen. Acht Männer und Frauen trafen sich schließlich in einer Kreuzberger Kneipe aus der Hausbesetzer-Ära, in der wir als erstes über Immobilien diskutierten. „Ich muss ständig umziehen“, klagte ein Creativedirector einer Agentur für politische Kommunikation, „immer habe ich das Gefühl, dass ich nicht richtig am Platz sei.“ Sein Partner, ein Immobilienmakler, berichte von seiner Sehnsucht nach einem Hof im Oderbruch, der Landschaft, die ihn zur Ruhe kommen lasse. Seine Mutter sei 1945 aus einem Dorf in der Neumark, direkt auf der anderen Seite des Flusses, geflüchtet. Eine Sozialpädagogin mit Westberliner Kinderladen-Sozialisation erzählte, dass sie sich kurz nach der Wende ein Haus in Mecklenburg gekauft habe – ein Ort, den sie nun gerne mit uns teilen würde. Wir gingen auseinander mit einer gemeinsamen Sehnsucht: nach dem Ankommen.
Beim nächsten Treffen erschien eine Kriegsenkelin, die ihre Doktorarbeit über uns schreiben wollte – in Australien. „In Deutschland erscheint alles so mühsam,“ sagte sie. „Aber es lässt mich trotzdem nicht los.“

Es schien, als ob für uns die Zeit reif geworden sei für eine andere Beschäftigung mit der Vergangenheit. Das Private sollte endlich als das Politische begriffen werden, das Politische als das Private, wie es in den Siebziger Jahren die „Politik der ersten Hand“, die theoretische Fundierung der zivilgesellschaftlichen Bewegungen, statuiert hatte. Und so begannen wir, die in Bürgerinitiativen sozialisierten Enkel der großen Katastrophe, uns die Geschichte anzueignen, von der sich unsere Eltern und Großeltern entfremdet hatten.

Im Juni 2012 hatte ich einen Traum, den ich in den folgenden Wochen immer wieder träumte: Ein Junge, der sich mit seinen Geschwistern in einen überfüllten Zug quetscht. Der über einen Acker rennt, verfolgt von einem Tiefflieger, mit letzter Kraft die Siedlung erreicht und gegen eine Tür wummert. Der schreit, als niemand öffnet, und fühlt, wie sich die Einsamkeit wie ein Geschwür in seinem Körper ausbreitet.

Tagsüber tauchen Szenen aus meiner Kindheit vor mir auf, denen ich früher keine Bedeutung zugemessen und die ich niemals in Zusammenhang gebracht hätte – vor allem nicht mit dem Krieg: Mein Vater, der stundenlang allein an seiner Gitarre zupft. Meine Mutter, die nach einem Streit klagt, dass sich, wenn sie einmal keine Kraft mehr habe, sowieso niemand um sie kümmern werde. Ein Familienfest im „Hessenland“, bei dem meine Oma erzählte, wie sie 1955 mit meiner Mutter auf dem Bahnhof von Friedland stand, um ihren Schwager in Empfang zu nehmen, der zu der letzten Gruppe Kriegsgefangener gehörte, die Konrad Adenauer aus den russischen Lagern freigekauft hatte.

Erst nach dem Kriegsenkel-Seminar war mir aufgefallen, dass es dessen Vater war, der über den Verlust der Heimat in Russland getrauert hatte; der Heimat, in die der Sohn 1944 mit der deutschen Luftwaffe einfiel.

Und mir wurde bewusst, wie wenig ich trotz meiner Bücherwände, meines Berufes, der doch mit Aufarbeitung und Aufklärung zu tun hat, von meiner eigenen Geschichte verstanden hatte. Wie viel Angst auch ich hatte, etwas als Teil meiner Existenz anzunehmen, das ich mir nicht ausgesucht hatte; zu akzeptieren, das auch meine Familie Dinge erlebt hatte, wie ich sie als Journalistin mit Entsetzen aus der Distanz betrachtet hatte.

„Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd,“ schrieb Christa Wolf, die als Kind aus Landsberg/ Warthe flüchten musste. Wenn ich gewusst hätte, wie schmerzhaft es ist, diese Fremdheit aufzugeben, hätte ich wohl niemals damit angefangen.

Ein paar Wochen später schickte ich meinen Eltern einen Brief. Und dann saßen sie in meiner Küche, mit dem vorgekochten Sauerbraten im Gepäck, und als die Kartoffeln gar waren, setze mein Vater zur längsten Rede seines Lebens an.

Er erzählte seine Fluchtgeschichte, im „man“-Duktus, sagte, dass viele so etwas erlebt hätten und er sich frage, warum ich das unbedingt wissen wolle. Aber ich hörte ihn meinen Traum erzählen und weinte. Danach saßen wir den ganzen Abend auf dem Sofa, und er hielt meine Hand, als wäre das das Selbstverständlichste auf der Welt.

Meine Mutter nahm mich mit in eine Ausstellung über die bekennende Kirche und sagte: „Das ist deine Geschichte.“ „Aber woher kommt diese Angst?“ fragte ich.

„Welche Angst?“ fragte meine Mutter zurück, und sah dabei aus wie ein kleines Mädchen. Da wusste ich, dass ich vorerst nicht weiter insistieren durfte.

Als ich Weihnachten mit Freunden aus der Kriegsenkel-Gruppe verbrachte, bei ihren Eltern, die eine ähnliche Geschichte hatten und in einem ähnlichen Reihenhaus wohnten, gelang mir etwas, was ich vorher nicht gekonnt hatte: meine Eltern aus der Distanz zu betrachten. Ich fühlte die Trauer und die Angst und die Sehnsucht nach Nähe, die sie mit sich herumtrugen. Aus der Distanz wuchs eine Nähe in mir, die ich nie für möglich gehalten hatte.

Mit dieser Nähe bekamen die Orte und die Dinge, die mich geprägt hatten, einen neuen Platz: Ich bemerkte, wie fröhlich ich jedes Mal wurde, wenn ich an der Autobahn das Schild „Nordrhein-Westfalen“ sah – und mir trotzdem nicht vorstellen konnte, dort zu wohnen. Erkannte, dass die berühmte russische Seele, die ich so gerne selbst besitzen wollte, in Russland vor allem dazu diente, sich von diesen vorgeblich so gefühllosen, aber wirtschaftlich erschreckend erfolgreichen Deutschen abzugrenzen. Stellte fest, dass ich mich dem Protestantismus doch verbunden fühlte, auch wenn ich vieles an ihm ablehnte.

Ich spürte, dass ich Wurzeln hatte, und meine Verspannung begann sich zu lösen.

Als der Großonkel aus Kasachstan schrieb, dass er froh sei, dass es jemanden in der Familie gebe, der die Geschichten vor dem Vergessen rette, war ich zum ersten Mal stolz auf das, was mir das Leben so mühsam hatte erscheinen lassen: der Versuch, Worte zu finden für das, was hinter den Nebeln verborgen lag.

Nach dem Ende ihrer Redakteurstätigkeit bei der „Zeit“ ist Merle Hilbk als Schriftstellerin tätig („Sibirski Punk“, „Chaussee der Enthusiasten“, „Tschernobyl Baby“). Dieses Jahr wird sie auch in Kasachstan lesen.

Von Merle Hilbk

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